Duell in der Wartehalle des Elends: "Bruno" (Norman Hacker, li.) trift auf den Ösi-Schauspieler "Florian" (Florian Teichtmeister) – und spielt ihm übel mit. Die Wirtin (Katharina Pichler) wacht aufmerksam.

Foto: Matthias Horn

Um die kleine Eckkneipe "Zur Brust" haben Berlins Städteplaner gefühlt einen kilometerweiten Bogen geschlagen. In diesem Wartehaus des Weltuntergangs genießt das Hauptstadtelend ein letztes Mal Aufenthaltsrecht: Hier sind die Abgehängten, die von jeder Gentrifizierung Ausgenommenen, bis an ihr Lebensende unkündbar.

Im Wiener Burgtheater, wo man Daniel Kehlmanns Nebenan zur Theateruraufführung bringt, wringt eine Proserpina (Katharina Pichler als "Wirtin") den Putzlappen. Die resolute, turmhohe Frau trägt mehr Tätowierungen am Leib, als ein in der Kneipe verhockter Tag Stunden hat. Der Verkehrsfunk erzählt vom kilometerlangen Stau vor Österreichs Grenzen. Wer sich als erster rührt in diesem gottverlassenen Kiezloch (Bühne: Jessica Rockstroh), hat schon verloren. Und Martin Kušej, der inszenierende Hausherr, hat sich einen Mordsspaß daraus gemacht, der Zeit beim Verrinnen zuzusehen.

Nebenan ist nichts anderes als die Zweitverwertung eines von Kehlmann im Verein mit Schauspieler Daniel Brühl hergestellten Films. Er handelt von Berlin: vom Zusammenprallen der Alteingesessenen mit den Profiteuren. Es ist die Kollision der Zeitebenen, wie sie jede neoliberale, spätkapitalistische Modernisierungswelle produziert. Die einen haben so gut wie nichts, können aber nicht auf und davon. Die anderen bedienen sich – gerade weil sie potenziell alles haben (können) – noch am Unglück der anderen.

Dazwischen hockt, mit dem Rücken zum Publikum, der ewige Wutbürger (Stefan Wieland als "Micha"). Grübelt über seinem abgestandenen Bier und kräht, von der Wirtin gemaßregelt, krude Widerstandsparolen. Kušejs prächtige Installation funktioniert für sich. Doch Kehlmann hat ein tiefsinniges Kammerspiel geschrieben: einen Harold-Pinter-Einakter in Berlin-Mitte. Ein aus Wien gebürtiger Schauspieler (Florian Teichtmeister als "Florian") stößt in der Kneipe auf seinen Hausnachbarn (Norman Hacker als "Bruno"). Aus einer scheinbaren Zufallsbegegnung erwächst der Stoff zu einer teuflischen Intrige.

Mentor der Zukurzgekommenen

Bruno, der sauertöpfische Nachtarbeiter aus der Kreditkarten-Servicestelle, hat die Bewegungen auf Florians Konto genau registriert. Er passt den Götterliebling ab. Lässt ihn seine Allmacht fühlen. Und so vertritt Bruno mit stoischem Blick, mit vorgeschobener Unterlippe alle Zukurzgekommenen: die Modernitätsverlierer mit Herkunftsbezeichnung Ost. Teichtmeister hingegen gibt das weiche "Wienerchen" mit Wohnort Mitte. Er befindet sich am Sprung nach London, wo er für die Rolle eines Comics-Helden gecastet werden soll. Das iPhone erfüllt ihm unter dem Feennamen "Siri" alle Kommunikationswünsche. Die Kennmelodie entstammt einer TV-Vorabendserie über ein denkendes, mindestens teilautonomes Auto.

Florian durchläuft alle Stadien der Entzauberung. Als ewiger Charmeur wuchert er mit Proben seines Charmes wie mit Pfennigstücken, eine Währung, die in diesen Bezirken der Abwicklung jedoch wenig gilt.

Wie Teichtmeister vom "Sülzchen" kostet, das ihm sein teuflischer Rivale (Hacker) zur Henkersmahlzeit reicht; wie er aus dem Kostüm ewig lächelnder Verbindlichkeit herausplatzt, das alles ist gut und handverlesen und aller Ehren wert. Allein: Die Intrige trägt das Stück kaum eine Stunde lang. Zusehends unruhig werdend fragt man sich, was dieses (rasch durchschaute) Kammerspiel auf der Burgtheaterbühne eigentlich verloren hat. Die Burg-Bühne ist ein Wunderwerk der Technik. Auf ihr ließe sich der Alexanderplatz samt nahem Fernsehturm nachbauen.

Kein volles Risiko

Dieser Tage gibt man es ein wenig bescheidener. Dieses rechtschaffen brave Stück wäre auf der Josefstadt-Bühne zweifellos bestens aufgehoben. Gleich eingangs plärrt ein Schlager aus dem Radio: "Heute gehen wir volles Risiko ..." Eben nicht. Eher schon beschleicht einen das Gefühl, das Elend der sozial schlechter Gestellten wäre kundig zitierte Ausstattung. Eine Art Amüsierstoff: nicht als Dekorum, Hauptstadtelend light. Der Applaus immerhin war ausnehmend freundlich. (Ronald Pohl, 16.10.2022)