Als Mitarbeiterin des Monats wird Liz Truss derzeit wohl nur ironisch bezeichnet – hier zum Beispiel von Umweltaktivisten, die dem Unternehmen Shell diese Worte in den Mund legten. In ihrem tatsächlichen Arbeitsumfeld, nämlich der britischen Tory-Partei, mehren sich hingegen Bemühungen, die Premierministerin loszuwerden. Nur: wie?

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London – So schnell kann es gehen. Vor wenigen Wochen noch hoffte man in London auf Stabilität. Die oft chaotische Zeit unter Premier Boris Johnson war vorbei, die dauernden Skandale ein Grund für seine Abwahl durch die eigene Partei. Mittlerweile aber erscheint die Zeit unter dem skandalträchtigen Wendehals fast schon wie eine Glanzepoche der Tories. In nur 41 Tagen seit dem Amtsantritt von Liz Truss spielte sich in Großbritannien Geschichtsträchtiges ab, weniges davon erfreulich.

Zuerst starb am Tag drei ihrer Amtszeit die Queen, was der neuen Premierministerin freilich nicht vorzuwerfen ist, ihr allerdings König Charles bescherte – mit dem Truss eine wenig erfreuliche Beziehung zu verbinden scheint. Kurz nach der Trauerzeit stellte ihr handverlesener Finanzminister Kwasi Kwarteng dann sein "Minibudget" vor, also eine programmatische Sammlung wirtschaftlicher Maßnahmen der neuen Regierung. Daraus ragte ein großes Programm an Steuersenkungen hervor, das besonders den Wohlhabenden zugutekommen sollte. Weil er keine Gegenfinanzierung dafür vorlegte, schockierte das die Märkte, die seither gegen London wetten. Bei der Bevölkerung kam weder das Budget selbst noch die Marktreaktion gut an. Nach nur 37 Tagen im Amt wurde Kwarteng vorige Woche dann entlassen, sein Nachfolger, der eher als Zentrist geltende Jeremy Hunt, stellte Montagmittag ein neues Minibudget vor. Er nahm dabei kein Blatt vor den Mund. "Fast alle" der umstrittenen Steuerpläne habe er wieder einkassiert, sagte er.

Nur vier Sitze für die Tories?

Ob das reicht? Die Tories jedenfalls liegen in mehreren Umfragen über 20 Prozentpunkte hinter der Labour-Opposition, eine aus Sicht der Konservativen besonders ungünstige Befragung sah die Verhältnisse vergangene Woche bei 53 zu 19 Prozent. Wegen des Mehrheitswahlrechts würde das, wäre es ein echtes Wahlergebnis, 546 der 650 Sitze im Unterhaus für die Sozialdemokraten bedeuten. Für die Konservativen würden nur vier Sitze übrigbleiben. Größte Oppositionspartei wäre die schottische Nationalistenpartei SNP, die wegen ihrer regionalen Stärke zwar nur 4,4 Prozent der Stimmen, aber 52 Abgeordnete erhalten würde.

Dass eine Wahl tatsächlich so ausgehen würde, ist freilich unwahrscheinlich – andere Umfragen sagen der Partei nicht ganz so dramatische Niederlagen voraus. In Panik sind die Konservativen trotzdem. Ihr Problem: Die Verfassung ihrer Partei sieht für neue Parteichefs – die bei einer Mehrheit für die Konservativen in Personalunion auch Premierminister sind – eine Schonzeit von einem Jahr vor. Truss nach den gängigen Parteiregeln abzuwählen ist also nicht möglich. Es gibt aber andere Varianten, sie loszuwerden:

  • Der wahrscheinlichste Weg führt weiterhin über das sogenannte 1922-Komitee, das bei den Konservativen für Wahl und Abwahl der Parteiführung zuständig ist. In gewöhnlichen Zeiten startet dieses eine Vertrauensabstimmung, wenn mehr als 15 Prozent der Abgeordneten Briefe abgeben, in denen sie der Parteichefin ihr Misstrauen aussprechen. 15 Prozent wären aktuell 54. Laut Berichten – offiziell herrscht dazu Schweigepflicht – sind bereits mehr als hundert solche Briefe gegen Truss eingelangt, wegen der Schonzeit kommt es dennoch zu keiner Abstimmung. Allerdings: Diese Regeln kann das Komitee selbst ändern. Und genau danach werden die Rufe derzeit laut. Allerdings müssten dafür gleich mehrere Räder in Bewegung gesetzt werden. Denn angesichts der aktuellen Probleme können sich weder Land noch Partei einen weiteren internen Wahlkampf leisten. Graham Brady, der so mächtige wie traditionsbewusste Chef des Komitees, würde einer solchen Variante wohl nur zustimmen, wenn zumindest die Nachfolge vorab geregelt wäre. Um den formellen Voraussetzungen zu entsprechen, müsste es dafür zumindest zwei Kandidatinnen oder Kandidaten geben. Diese könnten sich aber vorab abmachen, auf einen Wahlkampf zu verzichten – einer der beiden würde dann gleich nach Ausrufung der Wahl wieder aufgeben und sich zum Beispiel mit dem Vizepremiersposten begnügen. Die andere Person wäre dann automatisch gewählt.
  • Eine ähnliche Abmachung würde eine weitere Spielart dieser Variante voraussetzen: Brady könnte, sollten in den kommenden Tagen weitere Misstrauensbriefe einlangen, Truss offiziell über das große Misstrauen informieren und dies womöglich auch öffentlich machen. Die Premierministerin müsste sich dann zwar formell nicht zurückziehen – es ist aber schwer denkbar, dass sie einfach weitermachen könnte, wenn das Misstrauen in den eigenen Reihen derart deutlich wird. Hier gilt: Je mehr Briefe einlangen, umso klarer ist die Botschaft. Sollte sich das Misstrauen von mehr als der Hälfte der eigenen Abgeordneten abzeichnen, würde für Truss wohl kein Weg mehr vorwärts führen.
  • Zu diesem Schluss könnte die Regierungschefin natürlich auch aus eigenen Stücken gelangen. Dass der Druck zunimmt, ist unbestritten – und Truss müsste wohl einiges an Realitätsverweigerung an den Tag legen, um das nicht auch selbst zu spüren. Den Konservativen nahestehende Blätter greifen die Premierministerin seit Tagen an, die Zeitung "Daily Star", sonst eher Krawall-Boulevard, zieht Aufmerksamkeit mit einem Livestream auf sich, der die politische Lebenserwartung der Premierministerin mit jener eines Salatkopfes vergleicht. Das Problem der Nachfolge wäre freilich nicht gelöst. Und ob die Tories sich wirklich in aller Eile auf einen Kompromisskandidaten einigen können, ist offen.
  • Bleibt noch ein Weg, der aus mitteleuropäischer Tradition betrachtet naheliegend erscheint: ein Misstrauensvotum im Parlament. Aus britischer Sicht wäre dies allerdings ungewöhnlich, und der konkrete Weg dazu scheint wenig plausibel. Zwar sehen auch die Regeln im Unterhaus vor, dass ein Misstrauensantrag gegen die Regierung eingebracht werden kann. Allerdings gibt es danach ein Zeitfenster von 14 Tagen bevor Neuwahlen angesetzt würden. In dieser Zeit können weitere Vertrauensabstimmungen stattfinden – entweder für die aktuelle Regierung (unwahrscheinlich) oder für eine andere (vermutlich unter Führung anderer konservativer Politiker). Allerdings: Die Tories müssten der Parlamentsauflösung zustimmen. Und das wäre sehr riskant – denn Neuwahlen würden ja für viele Abgeordnete genau das bedeuten, was sie mit Truss' Abwahl eigentlich vermeiden wollen: den wahrscheinlichen Verlust ihres Jobs. (Manuel Escher, 17.10.2022)