Foto von Thomas S. Kuhn aus einem dänischen Zeitungsbericht im Juni 1963 – dem einzigen über das Projekt. Die Aufnahme zeigt Kuhn in seinem Projektbüro in Kopenhagen.

Abb. aus dem besprochenen Band

Thomas S. Kuhn ist vor allem für ein Werk und einen Begriff bekannt: 1962 veröffentlichte der US-Wissenschaftshistoriker und -philosoph das Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, das zum Bestseller werden sollte. Darin zeigt Kuhn anhand von Beispielen aus der Geschichte der Chemie und der Physik, wie sich Phasen "normaler Wissenschaft" mit revolutionären Phasen (etwa der Kopernikanischen Wende) abwechseln. Diese wissenschaftlichen Revolutionen gehen mit sogenannten Paradigmenwechseln einher: Danach ist nichts mehr so, wie es zuvor war – oder "inkommensurabel", wie es bei Kuhn heißt.

Leiter eines Großprojekts

Dieses Buch und seine zentralen Begriffe sind 60 Jahre später weltbekannt. Weitaus weniger bekannt ist, dass der promovierte Physiker und Harvard-Absolvent Kuhn kurz vor dem Erscheinen des Buchs mit der Leitung eines wissenschaftshistorischen Großprojekts betraut wurde: Unter dem Titel Sources for History of Quantum Physics (SHQP) sollte mitten im Kalten Krieg eine riesige Materialsammlung zur Geschichte der Quantenphysik angelegt werden.

Thomas S. Kuhn 1989 bei einem Interview in Harvard.
Foto: Skúli Sigurdsson

Damit wollte man im Detail und auf Basis von Originaldokumenten nachvollziehbar machen, wie Niels Bohr, Werner Heisenberg oder Erwin Schrödiger (um nur die bekanntesten zu nennen) die Quantenphysik auf den Weg brachten. Zu diesem Zweck reiste Thomas Kuhn, der sein Projektbüro an Bohrs Institut in Kopenhagen hatte, 1963 unter anderem nach Wien, um den Nachlass des 1961 verstorbenen Physikers Erwin Schrödinger zu sichten und Teile daraus zu mikroverfilmen.

Anke te Heesen, "Revolutionäre im Interview." € 24,95/ 237 S., Wagenbach, Berlin 2022
Foto: Revolutionäre im Interview: Wagenbach

Oral History der Physik

Anke te Heesen von der Humboldt-Universität zu Berlin hat dieses Großprojekt der Wissenschaftsgeschichte nun selbst zum Thema einer lesenswerten wissenschaftshistorischen Studie gemacht. Die deutsche Wissenschafts- und Medienhistorikerin, die seit vielen Jahren über Interviews forscht, konzentriert sich in ihrem neuen Buch Revolutionäre im Interview vor allem auf einen zentralen Aspekt von SHQP: nämlich auf die ausführlichen Gespräche, die Kuhn und seine Kollegen mit Protagonisten der Quantenphysik und anderen Zeitzeuginnen – wie Schrödingers Witwe Annemarie – führten.

Leider sind diese Interviews zum Teil in Vergessenheit geraten. Anders ist es nicht zu erklären, dass sich seit fast 40 Jahren der Mythos hält, dass Schrödinger seinen Durchbruch bei der Quantenmechanik Ende 1925 in Arosa in Beisein einer unbekannten jungen Geliebten hatte, die als "dark lady" in die Physikgeschichte einging.

Dieses Gerücht stammte ursprünglich von Max Delbrück, der es vermutlich aber nur aufgeschnappt hatte. 1984 schrieb es der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer auf, 1989 wurde es vom Schrödinger-Biografen Walter J. Moore weitergesponnen, und seitdem geistert es durch die Schrödinger-Literatur.

Wie verlässlich sind die Erinnerungen?

Annemarie Schrödinger hingegen sagte in ihrem ausführlichen Interview mit Kuhn 1963 unmissverständlich, dass sie selbst mit Schrödinger in Arosa war, wie zuletzt David Clary in seiner neuen Schrödinger-Biografie schrieb.

Ob Annemarie Schrödingers Version stimmt, ist wieder eine andere Frage. Wie bei anderen Oral-History-Projekten wurde den beteiligten Wissenschaftshistorikern (neben Kuhn noch Paul Forman und John Heilbron) bald klar, dass die Erinnerungen der Physiker Lücken hatten oder ungenau waren. Womöglich traf dieser Befund auch auf deren Witwen zu.

Insgesamt war dem SHQP, dessen Projektendbericht 1967 erschien, kein überwältigender Erfolg beschieden. Die vielen Einzelperspektiven ließen sich letztlich nicht zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügen. Dieser fragmentarische Charakter spiegelt sich auch ein wenig in der Studie te Heesens, der mit Revolutionäre im Interview dennoch eine gut kontextualisierte und originelle Rekonstruktion dieses wichtigen Kapitels der modernen Wissenschaftsgeschichtschreibung gelang. (Klaus Taschwer, 21.10.2022)