Frauen haben es schwer? Frauen haben zu wenig Selbstbewusstsein? Frauen sind nach wie vor im Nachteil gegenüber männlicher Übermacht?

Wer dieses Narrativ gewohnt ist, wird von der These des US-amerikanischen Soziologen Richard V. Reeves überrascht sein, die dieser in seinem neuen Erfolgsbuch Of Boys and Men darlegt: Nicht das weibliche Geschlecht ist heute in der Krise, sondern das männliche. Das Männlichkeitsbild, wie wir es kennen, gilt nicht mehr, und ein neues ist nicht in Sicht.

Autor Reeves bringt eine Fülle von Beweismaterial für seine Diagnose. In US-amerikanischen Mittelschulen sind unter den jeweils besten zehn Schülern und Schülerinnen in einer Klasse zwei Drittel Mädchen. In Kanada bleiben unter den Kindern, die in die ärmsten Familien hineingeboren werden, doppelt so viele Buben wie Mädchen auch im Erwachsenenalter arm. Im vorigen Jahr hatte keine einzige der prestigereichen Studentenzeitungen an den l6 hervorragendsten juridischen Fakultäten in den USA einen männlichen Chefredakteur. Und unter den sogenannten Verzweiflungstoten – Menschen, die durch Selbstmord oder eine Drogenüberdosis starben – waren im gleichen Jahr drei von vier Todeskandidaten männlich.

Das Männerideal vom Helden und Kämpfer hat Sprünge bekommen.
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Psychologische Faktoren

Was sind die Gründe für diese Entwicklung? Dass die Arbeitslosigkeit unter Männern häufiger ist als unter Frauen, führt Reeves auf die Tatsache zurück, dass Produktionsberufe, in denen es auf physische Kraft ankommt, stärker von der Wirtschaftsflaute betroffen sind als Berufe im Dienstleistungssektor. Aber mehr als auf objektive Umstände führt der Autor die Krise der Männer und der Buben auf psychologische Faktoren zurück. "Es ist nicht so, dass Männer weniger Chancen haben", sagt Reeves, "sie machen nur weniger Gebrauch von ihnen." Studentinnen an US-Hochschulen bewerben sich doppelt so häufig für Studienaufenthalte im Ausland wie ihre männlichen Kollegen. "Frauen sind einfach motivierter, ehrgeiziger und bereit, mehr und härter zu arbeiten."

Gelten diese Beobachtungen nur für den amerikanischen Kontinent, oder sind sie auch für Europa relevant? Gewiss ist die Förderung von Frauen und von Minderheiten, manchmal auf Kosten weißer Männer, in den USA stärker ausgeprägt als bei uns. Aber auch in Europa galt es jahrhundertelang als ausgemacht, dass ein Mann in erster Linie die Aufgabe hat, die Seinen zu beschützen, zu ernähren und zu beherrschen. Das ist so nicht mehr der Fall. Die großen Ziele, die frühere Generationen von jungen Männern inspirierten, sind rar geworden, und auch das Männerideal vom Helden und Kämpfer hat Sprünge bekommen.

Junge Leute, Mädchen wie Buben, brauchen Vorbilder. Reeves vermisst solche Vorbilder für Buben. Das "Pseudo-Macho-Getue" von Ex-Präsident Donald Trump und seinesgleichen kann diese nicht ersetzen. Höchste Zeit für moderne, überzeugende Formen einer neuen Männlichkeit. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 19.10.2022)