Wie er es auch dreht und wendet: Grünen-Chef Werner Kogler findet in jeder heiklen Lage Argumente für den Verbleib in der Koalition mit Karl Nehammers ÖVP.

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Die Debatte holt die Grünen immer wieder ein. Aufgeflammt ist sie anlässlich der harten Flüchtlingspolitik der ÖVP ebenso wie nach der Wahl eines türkisen Wunschkandidaten zum ORF-Chef. Nun werfen die jüngsten Wendungen in der Korruptionsaffäre die Gretchenfrage von neuem auf: Wie sehr dürfen die Grünen um des Regierens willen moralische Ansprüche aufgeben?

Dass sich der Koalitionspartner die Kanzlerwürde mutmaßlich auch mit illegalen Methoden erschlichen hat, ist der kleineren Regierungspartei nicht neu. Doch die nun publik gewordenen Anschuldigungen Thomas Schmids betreffen nicht nur Sebastian Kurz, den die Grünen mit einem Ultimatum bereits vor einem Jahr als Kanzler ausgehebelt haben. Belastet hat der Kronzeuge in spe mit Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka und Klubobmann August Wöginger auch zwei amtierende Politiker. Im ersten Fall geht es um angeblich abgedrehte Steuerprüfungen, im zweiten um den Vorwurf des Postenschachers.

Selektive Stellungnahme

Für die grüne Führung ist das kein Grund, die Koalition infrage zu stellen. Parteichef Werner Kogler ging auf diese beiden Causen bis dato gar nicht ein. Stattdessen beschränkte sich der Vizekanzler auf den Hinweis, dass sich Kurz’ Ablöse nun als umso richtiger herausgestellt habe und die Justiz in Ruhe weiterarbeiten solle. Genau dafür seien die Grünen in der Regierung übrigens die Garanten.

Aus dem Parlamentsklub, der die koalitionäre Mehrheit stützen muss, ist bislang nichts Gegenteiliges gedrungen. Auf Anfrage des STANDARD zeigen Abgeordnete wenig Lust auf offizielle Stellungnahmen. Wenn jemand über Koglers Wording hinaus Auskunft gibt, dann unter der Bedingung der Anonymität. Stimmungsbild: Ein Aufstand gegen den Verbleib in der Koalition kündigt sich nicht an.

Eine Ebene darunter, an der Basis der Partei, dürfte die Meinungslage gemischter sein. In Gesprächen seien ihr sehr unterschiedliche Ansichten zu Ohr gekommen, berichtet Karin Stanger, Bundessprecherin der alternativen, grünen und unabhängigen Gewerkschafter*innen (Auge/UG). Auf der einen Seite stünden jene, die für einen klaren Bruch plädieren: "Es reicht, raus aus dieser Koalition!" Auf der anderen hielten Verfechter des Status quo das Argument entgegen, dass die grüne Mission in der Regierung nicht abgeschlossen sei: Zu viel gebe es noch zu tun.

In der Koalition nachlegen

Obwohl Stanger gegen eine Koalition mit der ÖVP war und immer noch ist, kann sie letzterem Argument einiges abgewinnen. Das Klimaschutzgesetz gelte es ebenso durchzubringen wie den endlos verhandelten Umbau des Arbeitslosengelds, auch bei der Pflegereform müsse nachgelegt werden. Die Bezirksrätin aus Wien-Wieden plädiert deshalb für Zuwarten: "Wer weiß, was noch an Enthüllungen kommt und die Lage ändert."

Einen Grund für verbale Rücksichtnahme auf den türkisen Koalitionspartner hat Stanger als Basisfunktionärin allerdings nicht. "Sobotka muss weg, das geht sich angesichts der ganz klaren Anschuldigungen nicht mehr aus", sagt sie: "Und die ÖVP hat sich definitiv eine Pause in der Opposition verdient – um aufzuräumen und ihren moralischen Kompass neu auszurichten."

Doch genau an diesem Punkt haken alle Emanzipationsgedanken. Eine Ampelkoalition mit SPÖ und Neos bietet sich den Grünen als "fortschrittliche" Alternative an – in der Theorie. In der ernüchternden Realität jedoch schaffen die drei Parteien in Umfragen bisher maximal mit Ach und Krach die notwendige 50-Prozent-Mehrheit. Ein Absprung aus der Koalition mündet also nicht zwangsläufig in ein Ende der Regierungsbeteiligung der ÖVP. Diese währt, von kurzer Unterbrechung durch das Expertenkabinett nach dem Ibiza-Skandal abgesehen, bereits stolze 37 Jahre.

Misstrauen in die SPÖ

Überdies kursiert in den grünen Reihen die Vermutung, dass die potenzielle Kanzlerpartei SPÖ gar nicht an die Ampel glaube. Anders sei es nicht zu erklären, dass sich die Sozialdemokraten gerade an den Grünen auffällig stark rieben. Offensichtlich trieben das Wiener Rathaus und die in der Sozialpartnerschaft verhaftete Gewerkschaft die Partei einmal mehr in Richtung rot-schwarze Koalition.

Was manche Fürsprecher der bestehenden Liaison noch ins Treffen führen: Weil die ÖVP Neuwahlen weit mehr fürchten müssten als die Grünen, seien die Chancen noch nie so gut gestanden, sich in der Regierung durchzusetzen. Diese Gelegenheit fahren zu lassen, indem man es wegen eines für die laufende Arbeit nebensächlichen Politikers wie Sobotka auf einen Koalitionsbruch ankommen lasse, sei ein zu hoher Preis.

Doch dieser könnte später zu zahlen sein. Kaum jemand stehe mit einer Checklist für konkrete Gesetze in der Wahlzelle, hat der Politologe Peter Filzmaier einmal angemerkt: Vielmehr hätten grüne Wählerinnen und Wähler aus einer "diffusen Hoffnung auf eine bessere Politik" heraus für die Regierungsbeteiligung votiert. Mit der ÖVP könnte die Glaubwürdigkeit dahin sein.

Bekommt die kleine Koalitionspartei also noch die Rechnung präsentiert? Das sei bisher auch nicht passiert, hält ein Mandatar ungerührt entgegen: "Ich hätte nie gedacht, dass wir nach fast drei Jahren an der Seite der ÖVP in Umfragen immer noch zweistellig sind." (Gerald John, 21.10.2022)