Spendensammler, Rockstar und Autor: Serhij Zhadan.

Foto: EPA/RONALD WITTEK

Sein soeben erschienenes Kriegstagebuch Himmel über Charkiw ist nur das jüngste Beispiel für das ukrainische Selbstbewusstsein, das Serhij Zhadans Literatur transportiert. Romane wie Internat, Mesopotamien und Die Erfindung des Jazz im Donbass haben den Autor seit den 2010er-Jahren auch im deutschen Sprachraum (Suhrkamp) bekannt gemacht. In Internat (2017) will der junge Lehrer Pascha seinen Neffen Sascha aus dem Schulinternat heimholen, denn die ganze namenlose Stadt im Donbass ist unter Beschuss. Dabei taumeln die beiden durch eine dystopische Kriegslandschaft. Mesopotamien (2014) ist ein Porträt Charkiws, auch hier ist der weit zurückreichende Konflikt mit Russland bereits zum grausigen Krieg geworden.

Eigenständigkeit

Für dieses "herausragende künstlerische Werk" wird Serhij Zhadan am Sonntag in Frankfurt mit dem renommierten Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Zhadan hat neben Jurij Andruchowytsch und Oksana Sabuschko mit seinen Büchern dazu beigetragen, dass die Ukrainer ein Gefühl für die Eigenständigkeit der Ukraine nach 1991 bekommen haben. Nicht zuletzt auch, weil sie auf Ukrainisch schreiben. 1974 im Gebiet Luhansk in der Ostukraine geboren, über siedelte er Anfang der 1990er nach Charkiw und wurde prägend für die damalige junge, wilde Szene der Stadt und des Landes. Neben Ro manen und Gedichten schreibt Zhadan bis heute auch Texte für ukrainische Rockbands und tritt selbst mit seiner Band Zhadan i Sobaki als Sänger auf.

Bewusstseinsströme und groteske Elemente lassen Zhadans Bücher flirren, starke Bilder geben ihnen Intensität, dazu kommen fantastische, originelle, strauchelnde Figuren, keine Angst vor Pathos und Poesie, aber auch keine vor dem Ordinären. Zhadan spielt in seiner Literatur, indem er Tradition und die Geschichte seines Landes ironisch anpackt, auch dekonstruiert. Immer allerdings ausgestattet mit Humanismus und zärtlichem Blick.

"Humanitäre Haltung"

Auch für ebenjene "humanitäre Haltung, mit der er sich den Menschen im Krieg zuwendet und ihnen unter Einsatz seines Lebens hilft", wird Zhadan am Sonntag geehrt.

Denn sein wichtigstes Medium ist seit Februar nicht das Buch, sondern Social Media. Auf Instagram teilt er Fotos von Kindern, die im Krieg ihre Heimat und ihre Haustiere zurücklassen mussten. Man kann auf seinem Account aber auch zivile Widerstandsakte mitverfolgen. Etwa promotet Zhadan eine Aktion, im Zuge derer Autos für Charkiw gesammelt werden. Und er ruft zu Geldspenden für das ukrainische Militär auf. Die Drohnen, die davon u. a. gekauft werden, übergibt er auf Fotos an Soldaten, deren Gesichter er sicherheitshalber zensiert.

Bei der Pressekonferenz im Vorfeld der Verleihung erklärte Zhadan am Freitag: "Wenn die Dichter schweigen, dann bedeutet das, dass die Angst gewonnen hat." Die Kraft zum Kämpfen gebe ihm "vielleicht das Gefühl, dass die Wahrheit auf unserer Seite ist". Vielleicht kann Zhadan, wenn dieser Krieg vorbei sein wird, ja endlich zuversichtlicher über seine gebeutelte Heimat schreiben. (Michael Wurmitzer, 22.10.2022)