Im Gastblog argumentiert die Journalistin und Politikwissenschafterin Antje Schrupp, dass eine Analyse von Geschlechterrollen mit einer Reflexion der spezifischen sozialen Rahmenbedingungen einhergehen sollte.

Wissen Sie, was mich nervt? Das verflachte Verständnis von Geschlecht, das den öffentlichen Diskurs dominiert. Und die fast schon Mantra-artige Beschwörung, dass man ja heutzutage auf gar keinen Fall mehr von Unterschieden zwischen Frauen und Männern oder überhaupt von Unterschieden der Geschlechter sprechen darf.

Eine fatale Rolle spielt hier ideengeschichtlich die Unterscheidung in Sex und Gender, also in "biologisches" und "soziales" Geschlecht. Das Problem an dieser Unterscheidung ist nicht nur, wie Judith Butler geschrieben hat, dass man sie eigentlich gar nicht wirklich treffen kann. Sondern vor allem, dass wir uns angewöhnt haben, Geschlecht auf diese beiden Aspekte zu verkürzen. Vor lauter Streiterei darüber, ob Geschlecht nun Sex oder Gender oder beides ist, und vor lauter Gegenüberstellung von "nature" versus "nurture" und in welchen Anteilen das eine oder das andere wichtiger sei, ist völlig aus dem Blick geraten, dass Geschlecht vielleicht auch noch etwas ganz anderes sein kann als das.

Margarete Susman: Geschlechterrollen um 1900

Diese Erkenntnis kam mir vorige Woche in Zürich. Dort war ich unter anderem deshalb, weil nun tatsächlich der 150. Geburtstag von Margarete Susman zu feiern war, jener deutsch-jüdischen Philosophin und Denkerin, die mich schon das ganze Jahr über beschäftigt. Neben einem Besuch an ihrem Grab und des Hauses in der Krönleinstraße 2, wo sie gewohnt hat (leider gibt es keine Plakette oder sonst eine Erinnerung dort), besuchte ich auch eine Podiumsdiskussion. Dort ging es neben vielem anderen auch um ihr differenzphilosophisches Geschlechterkonzept.

Was ist überhaupt gemeint, wenn jemand von "Frauen" spricht?
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Und man war sich so einig darüber, dass Susmans Verständnis von Geschlecht heute auf gar keinen Fall mehr brauchbar sei, weil sie zwischen Frauen und Männern unterscheidet! Meine Güte! Was mich an dieser Argumentation stört, die ja nicht nur in Bezug auf Susman vorgebracht wird, ist die Weigerung, sich in andere zeitgenössische Konzepte einzudenken. Also die Frage zu stellen, welche Bedeutung Worte wie weiblich und männlich in einem Text von 1912 gehabt haben könnten – in diesem Jahr erschien Susmans Buch "Vom Sinn der Liebe", eine Metaphysik der Geschlechter und der Welt insgesamt.

"Frau" als ideengeschichtliche Rolle

Würde man nämlich fragen, was Susman überhaupt meint, wenn sie von "Frauen" spricht, würde klar, dass sie damit weder "Sex" (reproduktive biologische Körpervariante) noch "Gender" (soziale erlernte Geschlechterrolle) meint, sondern dass sie ein historisches symbolisches Konzept meint, das für das Denken der Moderne zentral ist. Sie schreibt – und das formuliert sie an vielerlei Stellen ausdrücklich – nicht in einem zeitlosen und übergeschichtlichen Sinn von Geschlecht, sondern ausdrücklich über "die moderne europäische Frau", die in dieser spezifischen, "extrem patriarchalen" (Susman) Kultur eine bestimmte ideengeschichtliche Rolle spielt. Und daran ist überhaupt nichts problematisch oder schwierig oder "heute überholt". Im Gegenteil. Ich halte es sogar für sehr wegweisend. Weil auch heutige Geschlechterdiskurse ganz und gar nicht in Sex oder Gender aufgehen.

Sicher vermischen sich bei Susman konkrete, reale Frauen mit gesellschaftlichen Rollenzuweisungen, biologischen Aspekten (insbesondere der Gebärfähigkeit) und einer symbolischen Konstruktion von Weiblichkeitsvorstellungen in der bürgerlichen Moderne. Das genau ist es, was Luisa Muraro mit dem Hinweis auf die literarische Form der Metonymie beschreibt (im Unterschied zur Metapher), nämlich das Zusammenfallen von symbolischer und realer "Frau" – dazu finden Sie hier mehr.

Der Kontext ist notwendig

Aber der Witz von sozialer Konstruktion ist doch genau das. Sie ist nicht nur eine Idee, sondern gleichzeitig menschengemacht wie auch real und vor allem historisch, regional, kulturell unterschiedlich, auch wenn sie von tatsächlichen konkreten Menschen verkörpert wird. Über das hinaus gibt es keine ontologische Bedeutung von Weiblichkeit oder von Geschlechtlichkeit. Das heißt: Man kann über Frauen (oder Geschlechter generell) nicht in einem übergeschichtlichen, vom jeweiligen Kontext losgelösten Sinne sprechen.

Nichts anderes ist mit "interkulturellem" Dialog gemeint: In politischen und philosophischen Debatten begegnen sich nicht abgehobene universale "Menschen", sondern Menschen, die jeweils einer bestimmten spezifischen Kultur, Zeit, Region angehören und deren Beiträge nur aus diesem Kontext heraus verstehbar sind. Auch bei der Lektüre historischer Texte sollte man die Bereitschaft mitbringen, sich auf die Sichtweise der anderen einzulassen. Möglicherweise könnte man ja etwas lernen. (Antje Schrupp, 27.10.2022)