Passgenaue Premierenbesetzung: mädchenhaft wirkende Ballerina Hyo-Jung Kang als Prinzessin Aurora.
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Wäre der Wiener Hof nach dem Untergang der Titanic 1912 in einen hundertjährigen Schlaf gefallen, hätte es vielleicht keine Weltkriege gegeben. Aufgewacht wäre man im neuen Jahrtausend, und Österreich würde halt immer noch als Monarchie dastehen. Auf jeden Fall hätte die Geschichte einen ganz anderen Verlauf genommen.

Politisch gesehen enthält die Erzählung in dem populären romantischen Ballett "Dornröschen" eine versteckte Provokation: Die gesamte Handlung findet im Königsschloss statt, dem Nukleus einer Regierungsform, die kein Außen kennt. Das erinnert nicht nur an die Abgehobenheit der Monarchie Russlands zur Zeit der Uraufführung von Marius Petipas "Dornröschen" 1890 in St. Petersburg, sondern auch an die Blasen, in denen so manche Eliten von heute umhertanzen.

Zeitsprünge und die Selbstisolation autokratischer Systeme gehören jedoch nicht zu den Themen, die Martin Schläpfer, Leiter und Chefchoreograf des Wiener Staatsballetts, umgetrieben haben, als er an seiner Neuinterpretation des Klassikers arbeitete. Sein "Dornröschen" feierte am Montag in der Staatsoper Premiere. Schläpfer hat dem Märchen seinen Plot weitgehend gelassen und – ähnlich anderen Neufassungen – da und dort Abweichungen eingebaut.

Die Fee Carabosse (Claudine Schoch) verkörpert nicht das Miese schlechthin, sondern ist auf eine Versöhnung hin angelegt.
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Keine menschenfressende Mutter

Solche Eingriffe können zu spannenden Ergebnissen führen. Schon die erwähnte St. Petersburger Fassung verläuft ganz anders als das Märchen "La Belle au bois dormant", wie es Charles Perrault 1696 niedergeschrieben hat. Bei Perrault, auf den sich Petipas Libretto bezieht, ehelicht Dornröschen den jungen König und hat mit ihm zwei Kinder.

Im weiteren Verlauf wird's makaber. Die Königsmutter entwickelt kannibalische Gelüste und schickt sich an, Dornröschen samt Sprösslingen zu verspeisen. Dass Zar Alexander III. seinerzeit ein Ballett goutiert hätte, in dem eine menschenfressende Mutti antanzt, ist unwahrscheinlich. Heute wäre das wohl kein Problem, doch Martin Schläpfer wollte nicht so weit gehen.

Immerhin gilt "Dornröschen" als Resultat einer geradezu ideal verlaufenden Zusammenarbeit des Komponisten Pjotr Iljitsch Tschaikowski, Iwan Wsewoloschski, der Librettist, Bühnenbildner und Direktor des Mariinski war, und Petipa. Da sind Musik, Tanz und Handlung so gut wie untrennbar aneinandergefügt. Zwar schiebt Schläpfer zwischendurch ein Stück von Giacinto Scelsi ein, um eine seiner Handlungsadaptionen musikalisch zu unterfüttern, aber mehr ist nicht drin, ohne Tschaikowskis Struktur dekonstruieren zu müssen.

Martin Schläpfers Arbeit enthält eine deutliche Anstrengung, die Vollkommenheit des Originals zu relativieren, ohne den virtuosen Anspruch an die Tänzerinnen und Tänzer aufzugeben.
Foto: Ashley Taylos

Drohender Sinkflug?

Martin Schläpfers Arbeit mit zahlreichen Anleihen Petipas ist nicht dazu geeignet, in Konkurrenz mit dessen choreografischer Perfektion zu treten. Aber sie enthält eine deutliche Anstrengung, diese Vollkommenheit zu relativieren, ohne den virtuosen Anspruch an die Tänzerinnen und Tänzer aufzugeben. Die Premierenbesetzung der von der Fee Carabosse (Claudine Schoch) zum Langzeitschlaf verdonnerten Prinzessin Aurora (16) mit der mädchenhaft wirkenden Ballerina Hyo-Jung Kang war passgenau, die Königin war mit Olga Esina superelegant besetzt, und Masayu Kimoto gab einen weichgezeichneten König ab.

Der Carabosse, üblicherweise von einem Ballerino interpretiert, gestattet Martin Schläpfer einen Wandel: Sie verkörpert bei ihm nicht das Miese schlechthin, sondern ist auf eine Versöhnung hin angelegt. Dazu passt das Bühnenbild (Florian Etti), in dem die Dornen des Dickichts um das Königsschloss eliminiert sind.

Fazit: Martin Schläpfers "Dornröschen" ist allzu mild geraten und mit dreieinhalb Stunden gerade noch durchzuhalten. Hier zeigt sich auch, dass die Wiener Compagnie mittlerweile einiges von dem Glanz verloren hat, den ihr Schläpfers Vorgänger Manuel Legris verleihen konnte – ein zweites Alarmzeichen nach der misslungenen Nurejew-Gala vom vergangenen Juni. Hoffentlich zeichnet sich da nicht ein Sinkflug ab. (Helmut Ploebst, 25.10.2022)