Natürlich gibt es in diesem Spiel Verlierer. Nur spüren die das gar nicht. Denn auch wenn das, womit Lukas Beiglböck und Micha Brandtner mittlerweile eine Million Euro pro Jahr um setzen, für den Juristen und Philosophen (Brandtner) und seinen in Politikwissenschaften und Marketing heimischen Bruder immer noch "unglaublich" klingt, kratzt das die "Großen" im Lebensmittelhandel keine Sekunde: In einem Land, dessen acht Millionen Einwohner pro Kopf 65 Kilo Fleisch im Jahr verzehren und dafür eine Milliarde Euro ausgeben, fallen 50 Tonnen, die über die Online-Fleischdrehscheibe Nahgenuss für eine Million Euro verkauft werden, nicht weiter ins Gewicht.

Bio-Start-up: Micha Brandtner und sein Bruder Lukas Beiglböck setzen mit ihrem Fleisch-Onlinehandel eine Million Euro um.
Foto: Alexander Danner

Für das steirische Brüderpaar ist seine 2016 gegründete Plattform aber vom "Projekt" längst zum Beruf geworden – und für über 200 Biolandwirtschaften ein wertvolles, zentrales Werkzeug, Biofleisch selbstbestimmt zu vertreiben. Dabei ist die Art, wie mittlerweile 10.000 Nahgenuss-Kundinnen und -Kunden einkaufen, alles andere als neu. "Klassischer" und noch mehr "wie damals" kann man Fleisch kaum unter die Leute bringen. "Ab Bauer" nämlich. Dann, wenn er schlachtet. Am Hof. Dann landet die sprichwörtliche "halbe Sau" zuerst im Kofferraum und dann in der Tiefkühltruhe: Fleisch für Monate – denn verarbeitet wird alles, weg geworfen nichts. So wie in den Erzählungen der Großeltern.

Bauern- statt Supermarkt

Nur: Wer tut das heute noch? Wo wird eigentlich am Hof geschlachtet? Woher sollen Stadtbewohner wissen, was es wo, wann geben könnte? Und abgesehen davon: Was tut man mit Teilen, die nicht "Schnitzel" heißen? Klar: In einer romantisiert-idealisierten Lebensmitteleinkaufswelt kaufen Hipster, Bobos und Boomer nie im Super-, sondern stets am Bauernmarkt. Behaupten sie. Und die Bauern dort wird man auch am Hof besuchen. Demnächst. Also irgendwann. Spätestens eine Woche später.

Das passiert dann nicht. Nicht beim Obst, nicht beim Gemüse, nicht bei den Eiern – und schon gar nicht beim Fleisch: Der Griff zum vakuumverpackten Filetstück im Supermarktkühlregal ist – Herkunftszertifikate hin, Halte- und Schlachtthematik her – komfortabler und ökonomischer als die Reise zum Biobauern. Wie findet man den eigentlich?

Hier mischt sich Micha Brandtner dann ein. Dem heute 33-Jährigen und seinem um drei Jahre älteren Bruder ging es 2016 nicht anders: Mit Landwirtschaft hatten die beiden nichts am Hut. Der einzige Kontakt zu Bauern war ein Cousin in Hartberg. Sein Bioschwein schmeckte anders als "Industrie"-Schwein. Was der Cousin als Problem beschrieb, erkannten die Brüder als Möglichkeit: Die Ketten holen den Bauern das Weiße aus den Augen, aber Direktvertrieb sei schwierig: Schlachten. Liefer- und Kühlkette. Auf weniger gefragten Teilen bleibe man sitzen. Und: Im Supermarkt gibt es alles immer. Nicht nur Erdbeeren. Wie soll man da mithalten?

Bio-Start-up des Jahres

Micha und Lukas drehten den Spieß um. Dachten Fleisch saisonal, regional und ganzheitlich. Wie zu Großmutters Zeiten bewarben sie da noch die quiek-lebendige (sic!) Sau so lange, bis genug Käufer gefunden waren. Erst dann wurde gestochen, zerteilt und abgeholt. Oder geliefert. Den Unterschied zu "damals" macht die Onlinedrehscheibe – und der Zeitgeist half: Binnen Monaten hatten die Brüder neun Betriebe unter ihren Fittichen. Angebot, Preise, Termingestaltung und Abwicklung obliegen den Anbietern. Noch im Gründungsjahr wurde Nahgenuss zum Bio-Start-up des Jahres gewählt. Doch dass sie sechs Jahre später eine Million umsetzen und sich an Begriffe wie "Best Practice" oder "Win-Win-Win" fast gewöhnt haben würden, "hätten wir uns nie träumen lassen", sagt Brandtner.

Selbstabholung ist keine Bedingung – ebenso wenig "Halb" oder "Viertel": "Natürlich gibt es ausgeklügelte, professionelle Kühl- und Lieferlösungen." Und kleinere Portionen. Aber: "Mixpakete, nicht nur Filetstücke", betont Brandtner. Ja, das schaffe mitunter Erklärungsbedarf, aber "bisher hat es jeder verstanden: Man muss nichts wegwerfen."

Regional, ganzheitlich: Nahgenuss liefert Mixpakete, nicht nur Filetstücke.
Foto: Alexander Danner

Was der Bauer davon hat? Den Preis definiert der Produzent. Die Plattformbetreiber zwacken davon dann zwölf Prozent ab. Zum Vergleich: Vom Supermarktpreis sieht ein Bauer selten mehr als 20 Prozent. Und dar über, wie Landwirte bei der Preisgestaltung gegenüber Ketten "mitreden" können, macht sich niemand Illusionen. "Hier können wir unser Konzept so umsetzen, wie wir es für richtig halten", betont Martin Sageder. Seit eineinhalb Jahren ist der Bio-Rinder-Hof, den er mit seiner Frau Katharina im Mühlviertler Pfarrkirchen führt, bei Nahgenuss. "Lomo Alto" heißt das Label, unter dem die Sageders das Gegenteil von Turbomast-"Jungfleisch" anbieten: Hier stehen Kühe, die jahrelang als Biomilchkühe arbeiteten und dann mehrere Monate "Ruhestand" genießen. Geschlachtet wird am Hof, "weil das Tier das Recht hat, dort zu sterben, wo es auch anständig gelebt hat".

Qualität und Geschmack des Fleisches sprächen für sich, ist Sageder stolz. Auch Supermarktketten hätten schon beim 90 -Rinder-Betrieb mit seinen derzeit 20 "alten Damen" angeklopft. Vergebens: "Ketten optimieren ihre Angebotsschiene für sich, nicht für Produzenten oder Konsumenten. Würden wir uns da anpassen, könnten wir unseren Ansprüchen an Tierschutz und Ethik wohl nicht mehr gerecht werden."

Zusätzlich sei der Kontakt mit Besucherinnen und Besuchern wichtig. Ab-Hof-Kunden oder Selbstabholer würden den Besuch beim Bauern meist "mit einem Ausflug in die Region verbinden". Haltebedingungen seien immer, aber nie das einzige Thema: "Interesse bedeutet auch Wertschätzung. Die erlebt ein Bauer sonst kaum direkt." Dem stimmt auch David Richter zu – obwohl – und gerade weil – sein Verein gegen Tierfabriken gemeinhin die dunklen Seiten der Schlachtviehhaltung aufzeigt. "Ja, es gibt sie, die guten Betriebe. Und es ist wichtig, auf sie hinzuweisen." Gleichzeitig warnt der "Berufspessimist" (Eigendefinition) davor, "sie als Alibi zu missbrauchen: Wir reden von einer Nische."

Gutes vom Bauernhof

Einer Nische, die so klein nicht ist, betont Martina Ofner. Ofner ist in der österreichischen Landwirtschaftskammer für den "bäuerlichen Direktvertrieb" zuständig. 28 Prozent, etwa 30.000 der 107.000 Landwirtschaftsbetriebe Österreichs, bedienen sich laut ihren Zahlen der unter "direkt" subsumierten Vertriebswege "online", "ab Hof" oder "Markt": 14 Prozent hätten eigene Onlineshops, zehn finde man auf diversen Plattformen – und fast jeder Dritte stelle regional zu. "Das zusätzlich zum Betrieb zu stemmen ist nicht einfach." Nicht nur wegen der Logistik: "Wer einmal etabliert ist, hat oft weder Ressourcen noch Produktvolumina, um zu wachsen. Das wird mitunter als Unwille interpretiert." Nichtetablierte hätten dagegen nicht immer nur mit korrekt agierenden Plattformen Kontakt: "Manche dienen sich als Bezahlwerbeplattformen an – ohne entsprechende Gegenleistung."

Nicht zuletzt deshalb betreibe die Kammer unter der Dachmarke Gutes vom Bauernhof eine Website. Über die könne jeder der 1745 registrierten Betriebe gefunden werden. Vorausgesetzt, man sucht. Und das, betont Ortner, sei das wahre Problem der landwirtschaftlichen Direktvermarktung: "Der Konsument muss sich selbst bewegen. Mehr tun, als ‚Eigentlich will ich eh‘ sagen. Was nutzen Plattformen, Wochenmärkte und Ab-Hof-Verkauf, wenn die Leute dafür zu bequem sind?"

Daran ändert auch der Nahgenuss-Erfolg nichts: 10.000 Kunden, 200 Biobetriebe, 50.000 Kilo Fleisch, eine Million Umsatz. Ja, das macht stolz, sagt Micha Brandtner. Auch wenn die Botschaft verstanden werde. Trotzdem: "Dieser Markt ist eine Milliarde groß. Wir sind mit einer Million ein Zwerg. Aber dieser Zwerg beweist: Es geht auch anders." (Tom Rottenberg, 3.11.2022)