"Cyberpunk 2077" ist noch immer voller Fehler – aber vielleicht macht gerade das den Charme der schmutzigen Cyberpunk-Welt aus.

Foto: CD Projekt Red

Was wurde das Entwicklerteam von CD Projekt Red nicht gescholten: "Lügt mich einfach nicht an!", richtete Thomas Mahler, der österreichische Entwickler der gefeierten "Ori"-Serie, den polnischen Kolleginnen und Kollegen aus. Der Hype sei so groß gewesen, dass nur noch das Versprechen gefehlte habe, das Spiel könne Krebs heilen.

Mahler sprach von absichtlicher Irreführung, doch was bei "Cyberpunk 2077" geschah, ging weit darüber hinaus. Die PS4-Version war praktisch unspielbar und wurde wieder vom Markt genommen, beispiellos bei einem Titel dieser Größenordnung. Die Bewertungen rasselten in den Keller, der Börsenwert des Entwicklerstudios CD Projekt Red brach bis Juli dieses Jahres um 75 Prozent ein.

Frühstart mit Fehlern

Klar, wer über viele Jahre einen Hype befeuert und lange Zeit sogar auf einen Veröffentlichungstermin verzichtet – mit dem Hinweis: "Es kommt, wenn es fertig ist" –, darf sich nicht über einen Aufschrei beschweren, wenn das sehnlich erwartete Produkt schließlich in offensichtlich unfertigem Zustand auf den Markt kommt.

Es ist ein Phänomen, das in letzter Zeit immer öfter zu beobachten war – Spiele erscheinen zu früh, voller Fehler und sind erst nach einigen Patches einigermaßen mit Genuss spielbar. Und selbst als CD Projekt Red angab, nun mit dem Spiel zufrieden zu sein, gab es ernsthafte Zweifel daran, ob die Fans damit je besänftigt werden könnten.

Doch während diese Zeilen niedergeschrieben werden, läuft der Abspann der PS5-Version von "Cyberpunk 2077" über meinen Schirm, und es erscheint notwendig, das Phänomen noch einmal genauer zu betrachten. 35 Stunden Spielzeit nahm das Werk für sich in Anspruch, während mehrere Hochglanztitel auf dem Regal neben der Konsole Staub ansetzen.

Nach wie vor voller Bugs

Gleich vorab: Ja, viele der erwähnten Bugs existieren nach wie vor. Auch in der PS5-Version, die von CD Projekt Red definitiv als fertig tituliert wurde. Da liegt ein Pärchen auf einem Autodach und blickt zu den Sternen hinauf, so weit darüber schwebend, dass man hindurchsehen kann. Da tauchen wichtige Figuren plötzlich aus dem Nichts auf, einmal verschwinden Gegner, die man eigentlich noch beseitigen müsste, um die Mission abzuschließen.

Das Spiel hat den Charme einer Pioniertat, bei der Dinge versucht wurden, die es noch nie zuvor gegeben hat. Da kann schon einmal etwas schiefgehen, der Mut zum Neuen steht im Vordergrund und lässt einen manchmal ein Auge zudrücken.

Das Pikante daran: Die Dinge, die hier nicht funktionieren, sind nicht neu und wurden von anderen Entwicklerteams sehr gut gelöst. Ubisoft etwa setzt in seinen "Watchdogs"-Spielen all das, was bei "Cyberpunk" so fehlerhaft ist, verlässlich wie ein Schweizer Uhrwerk um.

Andere Elemente wirken aus der Zeit gefallen. Wann hat man in einem Blockbuster-Game zuletzt so rudimentäre Gesichtsanimationen gesehen? Die Gesichter heben sich oft vom fantastisch aussehenden Hintergrund ab und wirken wie Gegenstände. Hier scheinen detailliert animierte Puppen am Werk zu sein, keine Menschen.

Ein in verschiedener Hinsicht misslungenes Spiel, so scheint es. Nichts läge näher, als sich zu wünschen, das polnische Team hätte seine Arbeit so sauber gemacht wie die Leute von Ubisoft. Verrückterweise drängt sich eher der gegenteilige Gedanke auf: Wie großartig könnte "Watchdogs Legion" sein, hätte es mehr von einem "Cyberpunk 2077"?

Das Mammutprojekt wurde lang erwartet, sorgte aber wegen der vielen Bugs für Enttäuschung.
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Cyberpunk trifft Realität

Ein unbestrittener Pluspunkt von "Cyberpunk 2077" ist Night City. Über die Stadt ist schon viel geschrieben worden, und tatsächlich ist sie anders als alles, was man von anderen Open-World-Games kennt. Sie ist größer, unförmiger, wie eine echte Stadt, obwohl vieles stark überzeichnet ist und viele der riesigen Gebäude nicht betretbar sind.

Das Interessanteste an dem Spiel ist aber vielleicht die Zeit, in der es erscheint. Das Cyberpunk-Genre war bisher immer pure Science-Fiction, eine Vision einer fernen oder nicht so fernen Zukunft. Elemente aus "Blade Runner" oder "Neuromancer" lassen sich auch in "Cyberpunk 2077" unschwer wiederfinden. Insofern ist erstaunlich, wie realistisch sich diese Welt anfühlt. Es sind die gleichen Cyberpunk-Elemente, die man schon aus unzähligen Spielen, Filmen und Büchern kennt – neuronale Interfaces, künstliche Intelligenz, technische Körper-Upgrades, Überwachungskameras, die sich hacken lassen.

Doch all das fühlt sich so echt und gegenwärtig an wie nie zuvor, obwohl das Spiel in einer gar nicht so nahen Zukunft angesiedelt ist. Die NPCs, die das Spiel bevölkern, sind bunt und schrill, doch wer nach ein paar Stunden Spielzeit abends in einer österreichischen Stadt auf die Straße geht, sieht schnell, dass in Wirklichkeit kaum überzeichnet wurde. Dass manche der technologischen Elemente heute so nicht möglich sind – geschenkt. Trotzdem fühlt sich die Geschichte wie eine Gegenwartsgeschichte an.

Und die zentrale Stärke ist sicherlich, wie schon bei CD Projekts großem Wurf namens "Witcher 3", das Storytelling. Hier steht nie ein Effekt im Vordergrund, immer ist das Vertrauen der Autorenteams in die eigene Geschichte zu spüren. Immer wieder gibt es unscheinbare, überraschende Elemente, die eigentlich nebensächlich sind und mit Genuss miterlebt werden wollen. Warum verbringen die Figuren nach einer Mission die Nacht in einer Hütte? Warum sitzt man so oft am Beifahrersitz, während jemand anderes durch die Stadt fährt?

Schmutzige Stadt

Das atemberaubende Ambiente tröstet immer wieder über die eine oder andere Unzulänglichkeit hinweg. In Summe ist es aber nicht die Optik der Stadt, die den Unterschied macht. Es sind vor allem einige schwer fassbare Designentscheidungen, die "Cyberpunk 2077" zu einem außergewöhnlichen Spiel machen, das zu Recht vorab gehypt wurde, vielleicht aus den falschen Gründen. Und auch wenn es wie eine Ausrede klingen mag: In einer dreckigen, groben Stadt wie Night City sind einige Bugs weniger störend, als sie es in einem Hochglanzsetting wären.

Bereits während des gut halbstündigen Abspanns macht sich so etwas wie Wehmut breit. Vielleicht wird es so eine absurde Mischung aus Großartigem und Unzulänglichem in der Videospielwelt nie wieder geben. Das rohe, verspielte Storytelling wird aber hoffentlich als Beispiel dienen und von vielen anderen Studios kopiert werden.

Deshalb soll an dieser Stelle auch nicht mehr gesagt werden, außer vielleicht, dass die von Mahler angesprochenen Lügen ein geringes Übel sind und es sich lohnt, dem Werk eine Chance zu geben – in der besten, am wenigsten fehlerbehafteten Version, die immer noch fehlerhaft genug ist. Manchmal kommt es auf die inneren Werte an, und um dem Team von CD Projekt Red Respekt für die Vision zu erweisen, soll auch dieser Text unfertig (Reinhard Kleindl, 11.11.2022)