Erst einmal einen Kaffee, bevor der STANDARD-Einkaufsbummel in der Europäiskij-Mall im Zentrum Moskaus losgeht. Die Geschäfte hier laufen gut, viele Leute sind unterwegs, der russische Mittelstand kauft gerne im Europäiskij ein.

Stars Coffee ist gleich mit zwei Filialen in der Mall vertreten. Der Kaffee schmeckt wie früher, als die Kaffeebude noch Starbucks hieß. Nach dem Rückzug des US-Unternehmens hat der russische Rapper Timati mit einem Geschäftspartner die 130 Filialen übernommen. Die Einrichtung und die Getränkekarte sind wie früher. Die junge Frau auf dem Stars-Logo ähnelt bis ins Detail der bekannten Starbucks-Meerjungfrau. Nur trägt sie eine traditionelle russische Kopfbedeckung.

Armenien, die Türkei, Kasachstan und China florieren nun als wichtige Umschlagplätze für Westware.
Foto: Yuri KADOBNOV / AFP

Einen Stock höher hat der Tiroler Kristallkonzern Swarovski eine Boutique. Der Laden ist geschlossen, aber alle Waren sind noch in der Auslage. Man habe beschlossen, "direkte Aktivitäten in Russland vorübergehend auszusetzen", verlautete das Unternehmen im März. Damals wurden die zwölf Boutiquen und der Onlinestore vorübergehend zugesperrt und Lieferungen nach Russland "bis auf weiteres ausgesetzt". Die Verkäuferin im Laden vis-à-vis hofft, dass Swarovski bald wieder aufmacht. Gut möglich, dass ihr Wunsch in Erfüllung geht. Bei Swarovski lautet die Antwort wie bei den meisten Unternehmen in dieser heiklen Frage: Man überprüfe laufend die künftige Strategie in Russland.

Auf Swarovski-Klunker verzichten muss in der Zwischenzeit aber niemand. Bei Ozon, der russischen Variante von Amazon, gibt es etwa schicke Handyhüllen, verziert mit Swarovski-Steinen.

Markenhersteller kehren zurück

Gleichfalls geschlossen sind die Läden der Bekleidungsketten Zara und Bershka, die besonders bei Jüngeren beliebt sind. Auch hier sind die Waren noch da, sorgsam abgedeckt unter Plastikfolie. Im Jänner sollen die Filialen wieder öffnen, berichtet die russische Nachrichtenagentur Ria Nowosti. Unter neuem Namen, der spanische Mutterkonzern Inditex verhandle über einen Verkauf des Russland-Geschäftes an eine libanesische Firmengruppe.

Derzeit geschlossen ist die Swarovski-Boutique. Wie lange noch? Schwer zu sagen, heißt es in Tirol.
Jo Angerer

Offiziell haben sich viele westliche Firmen aus dem Russland-Geschäft zurückgezogen. Ihre Produkte gibt es aber noch. Sportartikel von Nike sind im Netz bei Ozon erhältlich, Staubsauger des deutschen Haushaltsgeräte-Herstellers Miele führt der Technik-Laden in der Europäiskij-Mall. Und auch das beliebte Backpulver von Dr. Oetker gibt es noch. Das Dr.-Oetker-Werk in Belgorod hat das Unternehmen an die bisherigen russischen Geschäftsführer verkauft.

Neue iPhones auch in Russland

Gleich in mehreren Läden finden wir MacBooks und die neuesten iPhones von Apple. Sogar einen Re-Store gibt es, mit den Geräten und Original-Zubehör. Dabei hatte sich auch Apple bereits im März, kurz nach Beginn der russischen "Spezialoperation" in der Ukraine, aus dem Russland-Geschäft zurückgezogen. Doch zum Verkaufsstart des neuen iPhone 14 im September beruhigte Denis Manturow, der russische Industrie- und Handelsminister, die Apple-süchtige Kundschaft. Selbstverständlich wird es das neue Handy auch in Russland geben: "Warum nicht? Wenn die Konsumenten diese Telefone kaufen wollen, dann ja. Es wird die Möglichkeit geben." Nicht nur im Laden gibt es das iPhone 14, auch der russische Mobilfunkanbieter MTS vertreibt es. Allerdings zu höheren Preisen. Umgerechnet rund 1400 Euro kostet das Einsteigermodell. Und die Lieferung dauert bis zu 120 Tage, so MTS.

Auf "Westware" müssen die Konsumenten und Konsumentinnen in Russland dennoch nicht komplett verzichten.
Jo Angerer

Viele Produkte westlicher Hersteller, die sich aus dem Russland-Geschäft verabschiedet haben, sind trotzdem erhältlich. Wie ist das möglich? Das Zauberwort heißt "Parallelimporte". Was nicht direkt aus China importiert werden kann, kommt über Drittstaaten ins Land. Die rechtlichen Voraussetzungen dafür hat die russische Regierung Anfang Mai geschaffen. Das Industrie- und Handelsministerium veröffentlichte eine Liste mit Produkten aus rund hundert Warenkategorien, für deren Import keine Zustimmung der Hersteller mehr nötig ist.

Handys von Apple und Samsung sind darunter, aber auch Automarken und Ersatzteile verschiedener Branchen. "Mit diesem Dokument wird die zivilrechtliche Haftung aufgehoben, wenn die Produkte von Importeuren unter Umgehung der offiziellen Vertriebswege eingeführt werden", so das Ministerium. Nunmehr können Zwischenhändler, etwa in Armenien, Georgien, in der Türkei oder in Kasachstan, Waren irgendwo auf dem Weltmarkt kaufen und ganz legal nach Russland exportieren. Ohne dass es dazu einer Genehmigung des Herstellers bedarf. Innerhalb weniger Monate seien in der Türkei bereits 600 russische Firmen gegründet worden, berichtete die ARD. "Güterexporte und -importe von und nach Russland hätten sich seit August nahezu verdoppelt."

Transitland

Vor allem aber Kasachstan profitiert von dem neuen Vertriebsweg. Das Land hat sich den westlichen Sanktionen nicht angeschlossen, man wolle russischen Unternehmen nicht direkt helfen, aber man nehme eine "etwas neutralere Position" ein, erklärt der kasachische Präsident Kassym-Schomart Tokajew. Experten sind der Auffassung, dass sich durch die westlichen Sanktionen neue Möglichkeiten auftun. "Es ist durchaus zu erwarten, dass Kasachstan zu einer Art Transitland wird, um Sanktionen für Lieferungen in die Russische Föderation zu umgehen", zitierte die Zeitung Nezavisimaya Gaseta den Wirtschaftsexperten Andrey Grozin.

Konsumenten bei Laune halten

Es sind solche Parallelimporte, die Russlands Konsumenten bei Laune halten. Das Handelsvolumen Russlands mit den GUS-Mitgliedsstaaten (zwölf ehemalige Mitgliedsstaaten der Sowjetunion) stieg um mehr als ein Drittel und übertraf 156 Milliarden US-Dollar, so der russische Ministerpräsident Michail Mischustin. "Man muss diesen positiven Trend festigen, die Kooperation in allen Bereichen stärken", betonte er. Die Inflationsrate hingegen sei gesunken. Laut offiziellen Zahlen auf 13 Prozent, gegenüber 18 Prozent im April.

Stars Coffee hieß früher Starbucks. Nach dem Rückzug des US-Unternehmens hat der russische Rapper Timati mit einem Geschäftspartner die 130 Filialen übernommen. Die Einrichtung und die Getränkekarte sind wie früher.
Jo Angerer

In der Europäiskij-Mall jedenfalls gibt es nicht alles, aber vieles aus dem Westen. Bei Stars Coffee sitzen zwei junge Frauen am Nachbartisch und checken Nachrichten in ihren sozialen Netzwerken. Auf dem iPhone selbstverständlich. Verpackt in modischen Handyhüllen. Kann man alles ein paar Stockwerke höher kaufen. Sofern man das nötige Kleingeld hat. Vielleicht schlürft man ja später auch noch ein Red Bull zur Stärkung.

Zu haben sind die Drinks jedenfalls. Wie halten es also die Österreicher – Markenhersteller wie Red Bull, Banken, Versicherer oder die OMV, die mit ihrem Russland-Engagement in der Auslage stehen? Selbstverständlich halte man sich an die Sanktionen, wird allseits betont. Der Handel in den sanktionierten Bereichen sei massiv eingebrochen, sagt auch der Ökonom Harald Oberhofer von der Wirtschaftsuniversität Wien.

Bleiben und sich durchwursteln

Die meisten Unternehmen sind geblieben und wursteln sich durch. Alle kämpfen, zehn Prozent der Firmen haben geschlossen, vieles liegt auf Eis. 650 Niederlassungen österreichischer Unternehmen gibt es nach wie vor in Russland. Zu den wenigen Aussteigern gehören der Papierhersteller Mondi Group oder der Ziegelproduzent Wienerberger. Gehen oder bleiben – das ist für viele noch immer nicht abschließend geklärt. Red Bull lässt zunächst eine Anfrage unbeantwortet. Man habe "mit Anfang März 2022 alle Marketingaktivitäten und Neuinvestitionen in Russland eingestellt. Daran hat sich nichts geändert" hieß es einige Tage später.

Für die OMV ist das rohstoffreiche Land keine Kernregion mehr, es wird dort nicht mehr investiert. Bis auf die (unkündbaren) Gaslieferverträge will man alle Verbindungen kappen – auch das sibirische Gasfeld Juschno Russkoje, an dem OMV 24,99 Prozent hält. Bis dato habe man keine Möglichkeit gefunden, die Beteiligung zu verkaufen, heißt es auf Nachfrage.

Auch RBI prüft alle Optionen für ihr Russland-Geschäft. "Unsere Arbeit an der Bewertung der strategischen Optionen für die Zukunft der Raiffeisenbank Russland bis hin zu einem sorgfältig gesteuerten Ausstieg aus Russland setzen wir konsequent fort", heißt es offiziell. Entschlossener klingt der Versicherer Uniqa, der bei der Raiffeisen Life Versicherung (eine gemeinsame Tochter mit der russischen Tochter der RBI) einen kompletten Ausstieg aus Russland plant.

Von business as usual kann dennoch nicht die Rede sein. Die Sanktionen zeigen Wirkung: Die Exporte nach Russland sind zuletzt leicht auf 1,27 Milliarden Euro gesunken. "In einer Welt ohne Krieg und Sanktionen wären die russischen Exporte wohl relativ stark gestiegen", sagt Oberhofer. Die Sanktionen sind politisch abgestimmt, die Frage der Moral kann Unternehmen niemand abnehmen. (Jo Angerer aus Moskau, Regina Bruckner, 12.11.2022)

Anmerkung: Dieser Artikel wurde um eine Stellungnahme von Red Bull ergänzt.