Das Bild ist so klischeehaft, dass man es kaum glauben mag. Was nichts daran ändert, dass es die Wirklichkeit zeigt. Keine zwei Minuten nachdem der Bus ein so riesiges wie ramponiertes Schild passiert hat, das die Westgrenze der Oblast Cherson markiert, steckt keine 20 Meter abseits der Straße eine Rakete in der Wiese. Eine Handvoll komplett zerstörter Häuserzeilen weiter zeigt sich, was passiert wäre, wenn der Blindgänger keiner gewesen, sondern explodiert wäre. Ein Krater von zehn bis zwölf Meter Durchmesser tut sich auf, in dem sich der aufgerissene Asphalt mit Eisen, Stahl und Erde mischt. Neben ihm zeugt das Wrack eines ausgebrannten Kleinlasters davon, was sich hier vor ein paar Tagen abgespielt hat.

Spuren des Krieges in Cherson.
Stimeder

Ein paar Kilometer weiter kommt der Bus erstmals zum Stehen. Die Presseoffiziere des Operational Command South (OCS), jenes Teils der ukrainischen Streitkräfte, in deren Verantwortung die Verteidigung der südlichen Front fällt, lenken die Aufmerksamkeit der mitgereisten Journalisten – dem STANDARD und dem ORF Radio wurde als ersten österreichischen Medien der Zugang zum befreiten Cherson erlaubt – auf die Minensucher, die inmitten eines Weizenfelds ihrer Arbeit nachgehen. Nämliches zu betreten ist streng verboten. Die Russen haben bei ihrem Rückzug aus der bis vergangene Woche heftig umkämpften Oblast Minen und andere Sprengfallen hinterlassen, deren Zahl und genaue Standorte noch weitgehend unbekannt sind.

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Fußweg durch den Herbstmatsch

Keine fünf Kilometer weiter heißt es wieder aussteigen. Weil die einzige Brücke, über die es an dieser Stelle Richtung Cherson-Stadt geht, in tausend Trümmern liegt – auch hier stapeln sich die Minen, die die Ukrainer bisher gefunden haben –, lässt sich die Furche, die um sie herum führt, nur mit leicht beladenen Fahrzeugen bewältigen. Ein paar hundert Meter Fußweg durch die matschige Herbstlandschaft, und weiter geht die Fahrt durch einen Teil der Ukraine, der praktisch seit Beginn der Invasion derart fest in russischer Hand war, dass Kreml-Chef Wladimir Putin ihn seinem Volk im September offiziell als neuen Teil des Landes verkaufte.

Gefundene Minen und Raketen.
Foto: Stimeder

Die Nähe der Stadtgrenze von Cherson lassen eine halbe Stunde später die sich häufenden Checkpoints der ukrainischen Armee und die Plakatwände erahnen, die links und rechts die Straße säumen. Von den Botschaften, die sie bis letzte Woche verkündeten, ist nicht mehr viel übrig. Nur da und dort lassen sich unter den Fetzen noch die russische Flagge und Aufrufe erkennen, an dem sogenannten "Referendum" über den Anschluss Chersons an Russland teilzunehmen. Bei der Einfahrt wirkt die Regionalhauptstadt, die vor dem Krieg ziemlich genau so viele Einwohner wie Graz hatte, zunächst leer.

"Danke! Danke! Slava Ukraini!"

Die Vororte scheinen bis auf ein paar Soldaten mit gelber Armbinde, die dort in zivilen Autos patrouillieren, wie ausgestorben. Aber das Bild der Geisterstadt täuscht, je näher man dem Zentrum kommt. Mit jedem gefahrenen Meter werden die Menschen auf den Gehsteigen mehr, und als sie die Busse mit den ukrainischen Kennzeichen und dem Logo des Militärs sehen, tun sie etwas, was auf die Passagiere zunächst irritierend wirkt: Sie winken und rufen ihnen zu. Einmal, zweimal, zehnmal: "Danke! Danke! Slava Ukraini! Danke!" Für Gespräche mit ihnen bleibt zunächst wenig Zeit.

Auf der weiteren Suche nach Sprengfallen.
Stimeder

Die Presseoffiziere des OCS und die lokale Polizei zeigen den Berichterstattern aus aller Welt jene Stelle, an der die Russen in den ersten Kriegstagen 16 Kämpfer der Territorial Defense Forces (TDF) töteten und dann in einem öffentlichen Park verscharrten. Anschließend führen sie durch ein Gefängnis, in dessen Kfz-Werkstätte die Besatzer systematisch Einheimische folterten, die sie der Kollaboration mit Kiew verdächtigten.

Spitze des Eisbergs

Beides lässt sich zu diesem Zeitpunkt nicht unabhängig überprüfen. Angesichts der Bilder, die diese Orte abgeben, und angesichts der in den vergangenen neun Monaten gemachten Erfahrungen in praktisch allen Gebieten, die Russlands Streitkräfte eroberten und dann wieder aufgeben mussten, gibt es aber wenig Zweifel, dass Geschichten wie diese nicht nur der Wahrheit entsprechen, sondern nur die Spitze eines Eisbergs bilden.

In Cherson werden an die Bewohner Decken und Lampen verteilt.
Foto: AFP/BULENT KILIC

Von Anfang März bis Ende vergangener Woche, als der letzte Besatzer unter dem Druck des ukrainischen Vormarschs auf die östliche Seite des Dnjepr übersetzte, stand Cherson-Stadt ununterbrochen unter russischer Herrschaft. Ein Schicksal, das, wie über die Sommermonate hinweg bekannt wurde, zum Teil auf das Eigenverschulden der lokalen Führung des SBU, des ukrainischen Staatssicherheitsdienstes, zurückzuführen war. Die gab Cherson de facto kampflos auf – ein Umstand, für den ihre Mitglieder mittlerweile zur Verantwortung gezogen wurden und teilweise im Gefängnis sitzen. Seitdem gab und gibt es dort die meiste Zeit kein fließendes Wasser und keine Elektrizität mehr.

Freude bei Ludmila Barna und Nikolai Litwinow.
Stimeder

Weiterer russischer Beschuss

Eine Ahnung davon, wie die Einwohner Chersons die russische Besatzung erlebten, gibt einem ein Kurzbesuch auf dem seit vergangenem Wochenende in blau-gelben Fahnen, Blumenkränzen und selbst gemalten und geschnitzten Schildern versinkenden Plóshcha Svobódy, dem Freiheitsplatz. Kurz nicht nur deshalb, weil das offizielle Programm zu Ende ist und die Presseoffiziere zur Rückfahrt drängen, bevor die Dunkelheit und damit die um fünf Uhr nachmittags beginnende Ausgangssperre anbricht. Minuten zuvor ist die Stadt erneut unter den Beschuss der sich zurückziehenden russischen Truppen auf der anderen Dnjepr-Seite geraten.

Der Freiheitsplatz in Cherson.
Foto: Stimeder

Jeden Chersoner, der sich davon nicht mehr beeindrucken lässt und einem seine Geschichte erzählt, wörtlich zu zitieren scheint im Nachhinein fast unmöglich. Ihre Geschichten brechen förmlich aus ihnen heraus, und weil sie wissen, dass die Zeit knapp ist, wollen viele alles auf einmal erzählen. Und noch eines haben sie alle gemeinsam: Jeder und jede fängt während des Erzählens irgendwann zu weinen an. Da ist Olga Terentjewa (66): "Die letzten Tage, bevor unsere Jungs kamen, waren die schlimmsten. Die Russen haben uns mit Botschaften bombardiert, dass wir mit ihnen wegsollen, aber mein Mann ist Invalide und kann sich kaum mehr bewegen. Wir haben uns, so gut es geht, in unserem Haus versteckt."

Olga Terentjewa berichtet über die letzten Tage vor der Rückeroberung.
Foto: Stimeder

"Die Russen haben alle umgebracht"

Da ist Ludmila Barna (60): "Die Burschen aus meiner Nachbarschaft sind in den ersten Tagen des Kriegs in den Park am Shuminski Market gezogen, um zu protestieren. Manche hatten selbst gebastelte Molotow-Cocktails dabei. Die Russen haben sie alle umgebracht. Alle."

Da ist Nikolai Litwinow (72): "Als wir am 11. November den ersten ukrainischen Soldaten gesehen haben, haben wir alle zu weinen begonnen. Auch die Männer. Und wir weinen heute noch." (Klaus Stimeder aus Cherson, 18.11.2022)

VIDEO: Cherson nach russischem Rückzug seit Tagen ohne Wasser und Strom
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