Mehdi Taremi vom FC Porto darf sich laut Trainer Carlos Queirozoffen zu den Vorgängen im Iran äußern.

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Die Gruppe B beginnt mit einem Beweisverfahren. Das englische Nationalteam, der ewige Upperdog der Erwartungshaltung, muss beweisen, nicht wieder in jenen Schlendrian zurückgefallen zu sein, der das Mutterland der Ballesterei seit dem Titeljahr 1966 so hartnäckig hemmt. Ab 14 Uhr mitteleuropäischer Zeit bespielen die drei Löwen den Iran, der auch etwas zu beweisen hat. Nämlich: Regimetreue oder Rebellentreue.

Auch nicht die besten Voraussetzungen dafür, sich in Höchstkonzentration aufs Spiel vorzubereiten. "Alles, was wir machen, wird interpretiert", klagt der seit heuer in Nikosia auf Zypern stürmende Karim Ansarifard, "und jeder interpretiert es anders."

Singspiel

Zuletzt haben einige iranische Nationalteams – Basketballer, Wasserballer, ja sogar Sitzvolleyballer – getan, was österreichische Kicker aus schlichter Unmusikalität auch tun: Sie sangen die Hymne nicht mit. Die Demonstranten daheim verstanden es als Beitrag für ihre Sache. Beim letzten WM-Test, dem 1:0 gegen Nicaragua Anfang November, sangen nur zwei: der linke Flügel Vahid Amiri vom FC Persepolis und Mehdi Taremi, der Mittelstürmer vom FC Porto.

Der Coach des Teams Melli, wie die Iraner ihr Team nennen, der in Mosambik geborene Portugiese Carlos Queiroz, hat also mehr Hände voll zu tun, als jene alle, die er sowieso braucht für die Vorbereitung aufs Turnier. Die Spieler, meinte er, seien alt und reif genug, ihre Meinung offen sagen zu können. Ja, auch während des Turniers, das allerdings im Land des einzigen Verbündeten des Iran auf der Arabischen Halbinsel stattfindet.

Nichts Besonderes – nur Freiheit

Also sagt etwa Saman Ghoddos, im Brotberuf Midfielder beim englischen Premier-League-Klub Brentford und also auch intimer Kenner des Auftaktgegners: "Was die Menschen im Iran wollen, ist nichts Besonderes – nur Freiheit. Es muss sich etwas ändern."

Team Melli oder Team Mullah? Vor dieser Frage stehen die Spieler also. Den Druck, der in dieser Frage lauert, versucht der 69-jährige Queiroz ein wenig abzuleiten auf den Gegner. Der stünde ja auch immer unter leidigem Bekenntniszwang: "Dort beugen Spieler das Knie. Einige Leute stimmen dem zu, andere nicht. Beim Iran ist es dasselbe." Na ja, der Coach meinte wohl eher: das Gleiche.

Trauerspiel

Wenn es die Frage des Kniebeugens oder das Tragen einer Regenbogen-Armschleife allein wäre – die Engländer wären zufrieden. Zum Leidwesen von Teammanager Gareth Southgate hat sich aber eine nicht untypische sportliche Debatte entwickelt: Sind wir Löwen oder doch eher Katzerln?

Dass Southgate es kann oder könnte, zeigte er bei der vergangenen WM in Russland, da wurden die Engländer Vierte. Das 2:3 im Elferschießen des EM-Finales 2021 in Wembley gegen Italien wurde freilich allgemein als Scheitern empfunden. Und flugs verlinkt mit jenem Elfer, den Southgate im EM-Finale 1996 gegen Deutschland vergeben hat. Und vergeben tun die englischen Fans nie. Eric Dier, Midfielder von Tottenham, greift sich, was das betrifft, an den Kopf: "Dass er so in der Kritik steht, ist irre. Die Leute vergessen so schnell, wo wir herkommen. Aber so ist die Welt, in der wir leben."

Die Generalproben sind, was Theatermenschen als hoffnungssattes Zeichen zu interpretieren pflegen, schiefgegangen. Zuletzt gab es in der Nation League ein 3:3 gegen Deutschland. Davor unterlag man dem WM-Qualifikationsscheiterer Italien 0:1. Und, besonders grimmig, daheim Ungarn 0:4. "Trotzdem glaube ich", sagte Southgate damals, "dass ich der richtige Trainer bin."

Die Hymne wenigstens – das steht außer Streit – werden sie singen, die Albionischen. Es kann nur sein, dass einige "King" und "Queen" verwechseln. Die Macht der langen Gewohnheit. (Wolfgang Weisgram, 20.11.2022)

Technische Daten und mögliche Aufstellungen

Gruppe B – 1. Runde:

England – Iran (Al Rayyan, Khalifa International Stadium, 14.00 Uhr MEZ/live ORF 1, SR Raphael Claus (BRA).

England: 1 Pickford – 12 Trippier, 5 Stones, 6 Maguire, 3 Shaw – 4 Rice, 22 Bellingham – 17 Saka, 19 Mount, 10 Sterling – 9 Kane

Ersatz: 13 Pope, 23 Ramsdale, 2 Walker, 15 Dier, 16 Coady, 18 Alexander-Arnold, 21 White, 8 Henderson, 14 Phillips, 20 Foden, 26 Gallagher, 7 Grealish, 11 Rashford, 24 Wilson

Fraglich: 25 Maddison (Knie)

Iran: 22 Abedzadeh – 2 Moharrami, 13 Kanaanizadegan, 4 Khalilzadeh, 3 Hajsafi – 7 Jahanbakhsh, 6 Ezatolahi, 14 Ghoddos, 21 Noorollahi, 9 Taremi – 20 Azmoun

Ersatz: 1 Beiranvand, 12 Niazmand, 24 S.H. Hosseini, 5 Mohammadi, 8 Pouraliganji, 15 Cheshmi, 19 M. Hosseini, 23 Rezaeian, 25 Jalali, 16 Torabi, 17 Gholizadeh, 11 Amiri, 18 Karimi, 10 Ansarifard