Der Atridenfluch plagt die Familie: Michaela Kaspar spielt die Iphigenie so souverän wie einnehmend.

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"Ganz verteufelt human" sei sein an Euripides’ antike Tragödie angelehntes Schauspiel Iphigenie auf Tauris, schrieb Johann Wolfgang von Goethe an Friedrich Schiller. Es habe "seine Schwierigkeiten", klagte er dem Kollegen Johann Peter Eckermann. Das kann man wohl sagen, auch wenn Angelika Messner die wohl etwas anders definieren würde als der Freiherr. Er antizipierte den Mangel an "äußerem" Leben als Problem für künftige Inszenierungen.

Für Messner dagegen, die im Wiener Theater an der Gumpendorfer Straße (TAG) ihre eigene Fassung des Stoffes zur Uraufführung brachte, ist das Problem vor allem die Tatsache, dass für das "innere Leben", für die Personifizierung der hehren Vorstellungen von Menschlichkeit, Gutem und Schönem, eine Frauenfigur herhalten muss. Messner verlegt ihre Iphigenie in eine undefinierte Gegenwart, in der man nicht nur Goethe, sondern auch Theodor W. Adorno kennt. Sie kommen im an Elfriede Jelinek geschulten Text ebenso vor wie Van Halen.

Für den Bruder geopfert

Diese moderne Iphigenie spricht zwar nach wie vor in Blankversen – statt wie ihr antikes Vorbild aber "nur" für günstige Winde geopfert zu werden und forthin einer Göttin dienen zu müssen, ist sie im Bordell gelandet. Sie haust in einem Raum, der halb verfallener Palast, halb Kellerloch ist (Ausstattung: Heike Werner). Der Vater hatte die 14-Jährige verkauft – angeblich, um ihren neugeborenen Bruder durchzubringen. Auch hier regiert das Schicksal oder besser: der Atridenfluch. Die Mutter tötet den Vater, der Sohn daraufhin die Mutter, und er flüchtet, von Rachegöttinnen getrieben, mit seinem Freund Pylades in die Fremde und trifft dort auf seine Schwester.

Hier allerdings sind Orest (Emanuel Fellmer) und Pylades (Andreas Gaida) ein Pärchen, das schon allein wegen seiner Homosexualität fliehen muss – bequem mit dem Bus. Iphigenie wiederum schlägt sich mittlerweile mit dem Heiratsantrag des "Bosses" Thoas, einer Mischung aus Zuhälter und Mafia-Chef, herum, der, durch ihre Zurückweisung im männlichen Stolz gekränkt, ihr die Freiheit schenken würde – wenn sie nur vorher die beiden Fremden ermordet, die seine Männer aufgegriffen haben (fies: Georg Schubert).

Wehrhaft gegen Zuschreibungen und Zumutungen

Die Rolle der schicksalhaften Mörderin will Iphigenie (souverän und einnehmend: Michaela Kaspar) aber genauso wenig, wie jene der dankbaren Ehefrau (war Thoas, von Jens Claßen so charismatisch wie brutal dargestellt, doch "gut" zu ihr). Sie will aber auch nicht die mütterliche Retterin des traumatisierten Bruders sein, genauso wenig wie die Beschützerin der jungen Prostituierten Arka (Lisa Schrammel).

Wortgewaltig erwehrt sich Iphigenie all dieser Zuschreibungen und Zumutungen, wobei die These, das Konzept dabei manchmal etwas zu sehr im Vordergrund steht. Nichtsdestoweniger ein kluger, stark gespielter Abend, der schon allein wegen Jazz-Tubist Jon Sass, der mit seinem Spiel der Sprache Rhythmus und Struktur gibt, sehens- und hörenswert ist. (Andrea Heinz, 2.12.2022)