Seht euch ihren Hintern an! Knapp elf Minuten lang fachsimpelt die Youtuberin Lorry Hill in einem Video über die Kurven von Khloé Kardashian. Sie analysiert: Der Po des Social-Media-Stars ist weniger prall, die Silhouette schmaler, Kardashian hat höchstwahrscheinlich eine ihrer Schönheits-OPs, den Brazilian Butt Lift, rückgängig gemacht. Ihre Schwester Kim nahm im Frühjahr sieben Kilo ab, um in das Kleid von Marilyn Monroe zu passen, das sie heuer während der Met-Gala trug. Die Schrumpfkuren der Social-Media-Stars kommen einer Zeitenwende gleich. Mit ihren großen Pos und den schmalen Taillen hatten die Kardashians das Schönheitsideal der Zehnerjahre definiert.

Rückkehr des "Heroin-Chic"

Doch nicht nur die Kardashians sind erschlankt, in der Modewelt folgt man wieder ohne Scheu dem alten Credo "Weniger ist mehr". In den Mikro-Minis von Miu Miu steckten zuletzt besonders dünne Models, für ihre Performance engagierten Sébastien Meyer und Arnaud Vaillant, die Designer des Labels Coperni, ausgerechnet die überaus schmale Bella Hadid (Bild links). Das blieb nicht unbemerkt. "Bye-bye booty: Heroin chic is back" betitelte die "New York Post" einen Beitrag, ihm folgten etliche plakative Schlagzeilen. Deren These: Mit dem Comeback der Modetrends der Jahrtausendwende ("Y2K-Fashion") kehrten nun auch hervorstehende Beckenknochen, Augenringe und konkave Bäuche zurück, Dünnsein ist wieder "in".

Für ihre Performance wählten die Coperni-Designer das überaus schmale Model Bella Hadid.
Foto: Julien de Rosa / AFP, DPA Picture Alliance

Das klingt völlig anders als die Werbeslogans der Zehnerjahre, und ja, auch nach einem Rückschritt. Immerhin hatte sich die Modeindustrie ein knappes Jahrzehnt die Diversität auf die Fahnen geschrieben. Models mit den Kleidergrößen 44 oder 46 konnten sich nun Jobs angeln, die für sie lange unerreichbar waren: 2016 erschien Ashley Graham auf dem Titel der "Sports Illustrated", die britische "Vogue" zeigte 2018 die US-Amerikanerin Paloma Elsesser auf ihrem Cover, ihr folgte ein Jahr später Popstar Lizzo, 2020 betrat die Niederländerin Jill Kortleve den Laufsteg von Chanel. Sie war nach einem Jahrzehnt das erste Model jenseits der Größe 36, das von der Luxusmarke engagiert wurde. Das kam an, Models mit größeren Größen wurden zu Stars: Ashley Graham, Jordyn Woods und Iskra Lawrence folgen auf Instagram heute Millionen Menschen.

Großes Versprechen

Der Erfolg dieser Frauen, er versprach den Konsumentinnen ein mögliches Ende des Schlankheitsideals. Und er sprach jener Frauengeneration aus der Seele, die wie die 1986 geborene britische Moderatorin und Schauspielerin Jameela Jamil mit Kate Moss’ Sager "Nothing tastes as good as skinny feels" und "size zero" aufwuchs – und vielfach Essstörungen entwickelte: "Wir machen das nicht noch einmal. Unsere Körperformen sind keine Trends", erklärte Jamil in Interviews.

Doch ob das die Jungen beeindruckt? Ein Blick in die sozialen Netzwerke lässt daran zweifeln. Auf Tiktok gilt "Body-Checking" als Zeitvertreib. Taille, Kinnlinie oder das Profil werden in die Kamera gereckt. Wie verbreitet das Format ist, zeigen die Zahlen: Der Hashtag #SideProfile wurde 1,4 Milliarden Mal, #SmallWaist 837,1 Millionen Mal und #JawlineCheck 373,3 Millionen Mal verwendet, die Videos, die um den schmalen Körper kreisen, dominieren die "For You Pages" vieler Teenager. Zum Song Haus of Holbein schnürt man sich auf Tiktok in Korsetts, zur Gewichtsabnahme wird das Diabetes-Medikament Ozempic empfohlen.

Dünne weiße Modelwelt der 1990er: Kate Moss und Donovan Leitch 1995 in einer Werbekampagne für das Parfum CK One.
Foto: Julien de Rosa / AFP, DPA Picture Alliance

Neue Dimension

"Die Besessenheit mit unseren Körpern hat durch die Social-Media-Kanäle eine neue Dimension erreicht", glaubt auch die Medienwissenschafterin und -pädagogin Maya Götz. Sie beschäftigt sich mit dem Einfluss sozialer Medien auf das Körperbild junger Menschen. Heute schaue man nicht mehr nur auf Models oder Plakate, die Selbstinszenierung in den sozialen Netzwerken sei zum festen Bestandteil des Lebens geworden: "Junge Menschen nutzen diese Medien nicht nur, sie leben in ihnen." Über die Plattform Instagram wurde der Filter innerhalb eines Jahrzehnts Teil der Jugendkultur, zuvor haben nur Profis mithilfe von Photoshop Körper verändert. "Mehr als die Hälfte der jungen Instagram-Userinnen und -User benutzt Filter, entfernt vermeintliche Makel, macht sich länger, größer, schlanker." Die Folge: Je mehr Zeit junge Frauen auf Social-Media-Plattformen wie Instagram verbrächten, "desto mehr verengt sich ihr Schönheitsideal".

Die Wissenschafterin glaubt auch: "Das dünne Ideal war nie weg." Und das sei wenig verwunderlich: "Man muss sich vor Augen halten, dass die Industrie am besten am Defizit-Empfinden von Frauen verdient." Götz hält Body-Neutrality für wertvoller als Body-Positivity, die andauernde Beschäftigung mit dem eigenen Körper.

Wenig Veränderung

Doch waren die Plus-Size-Kampagnen der vergangenen Jahre nicht mehr als Nebelgranaten? Hat sich die Modeindustrie wirklich grundlegend verändert? Viele Indizien sprechen dagegen. Kollektionen werden nach wie vor in Größe 34 oder 36 produziert, jede abweichende Körpergröße ist auf dem Laufsteg oder vor Shootings mit Mehraufwand verbunden: Wird das Model Paloma Elsesser für einen Job gebucht, muss ihre Agentin im Voraus dafür sorgen, dass Röcke und Hosen auf Kleidergröße 44 angepasst werden.

Anproben dauerten länger als bei den anderen, es gebe im Model-Alltag immer wieder kleine Anfeindungen, sie fühle sich "schon ein bisschen isoliert", erklärte Elsesser 2021 in einem Gespräch mit dem "Zeit-Magazin". Luxusmarken wie Yves Saint Laurent bieten ihre Mode nur bis zur französischen Größe 42 an, das entspricht hier einer 40. US-Ketten wie Old Navy haben ihre Plus-Size-Linie ein Jahr nach der Einführung wieder eingestampft, zu wenig ertragreich.

Die Rückkehr des Heroin-Chics wollen Mode-Insider nicht bestätigen. Derzeit sei der "healthy body type" angesagt, es gehe darum, "in shape" zu sein. In der Branche bedeutet das: Größe 36, sportlich, athletisch, gute Haut. Eine Abkehr vom Dünnheitsideal sieht anders aus. (Anne Feldkamp, RONDO, 9.1.2023)