Im Gastblog präsentiert Kurt Tutschek eine Bildersammlung des deutschen Evolutionstheoretikers und geht auf dessen problematischen Sozialdarwinismus ein.

Es waren vor allem die kleinen, auf den ersten Blick unscheinbaren Tiere und Pflanzen, die den Zoologen Ernst Haeckel interessierten. 1834 in Potsdam geboren, studierte er in Würzburg und Berlin, doch bald zog es den promovierten Mediziner hinaus in die Welt. Auf Forschungsreisen nach Skandinavien, Dalmatien, Korfu, Korsika, Frankreich und Großbritannien fand er die Lebewesen, die sein Lebenswerk bestimmen sollten, vor allem in den Tiefen der Meere. Schwerpunktmäßig untersuchte Haeckel Radiolarien (Strahlentierchen), Kalkschwämme, Korallen, Medusen (Quallen) und leistete Grundlagenforschung für die Evolutionsgeschichte von Mensch und Tier.

Als Anhänger Darwins vertrat er die Evolutionstheorie und formulierte als einer der ersten deutschen Wissenschaftler die Abstammung des Menschen von affenähnlichen Vorfahren. Als ausgesprochen fortschrittlich erwies sich Haeckel darin, dass er die Abstammung der Arten popularisierte und sogar in den Schulunterricht integriert wissen wollte.

Ascidiae – Seescheiden
Foto: Biodiversity Heritage Library | gemeinfrei

Kunstformen der Natur

Darüber hinaus war Haeckel auch ein talentierter Künstler, der seine mitunter mikroskopisch kleinen Objekte in hunderten Skizzen und Aquarellen festhielt. Bald entstand die Idee, all die großartigen Bilder in einer Sammlung zu veröffentlichen. Ganz im Sinne seines populärwissenschaftlichen Zugangs sollten die künstlerischen Drucke Eingang in jeden Haushalt finden, ganz so wie das zoologische Nachschlagewerk "Brehms Tierleben" zu Beginn des 20. Jahrhunderts in vielen Bücherschränken des interessierten Bürgertums zu finden war.

Mit der künstlerischen Ausführung der Tafeln beauftragte Haeckel den Lithographen und Adolf Giltsch, mit dem ihm jahrzehntelange Zusammenarbeit verbinden sollte. Unter dem Titel "Kunstformen der Natur" wurden ab 1899 insgesamt 100 beeindruckende Lithographien zunächst in zehn Einzelbänden und schließlich als Komplettausgabe im Jahr 1904 veröffentlicht.

Im Vorwort schreibt Haeckel: "Die Natur erzeugt in ihrem Schoße eine unerschöpfliche Fülle von wunderbaren Gestalten, durch deren Schönheit und Mannigfaltigkeit alle vom Menschen geschaffenen Kunstformen weitaus übertroffen werden."

Und angesichts der Farbenpracht und Formenvielfalt der detailliert präsentierten Vertreter der Pflanzen- und Tierwelt kann man gar nicht anders als Ernst Haeckel zuzustimmen.

Acanthophracta – Wunderstrahlinge
Foto: Biodiversity Heritage Library | gemeinfrei
Desmidiea – Zierdinge
Foto: Biodiversity Heritage Library | gemeinfrei
Discomedusae – Scheibenquallen
Foto: Biodiversity Heritage Library | gemeinfrei
Trachomedusae – Kolbenquallen
Foto: Biodiversity Heritage Library | gemeinfrei
Asteridea – Seesterne
Foto: Biodiversity Heritage Library | gemeinfrei
Cyrtoidea – Flaschenstrahlinge
Foto: Biodiversity Heritage Library | gemeinfrei
Siphonophorae – Staatsquallen
Foto: Biodiversity Heritage Library | gemeinfrei
Chiroptera – Fledertiere
Foto: Biodiversity Heritage Library | gemeinfrei
Nepenthaceae – Kannenpflanzen
Foto: Biodiversity Heritage Library | gemeinfrei
Discomedusae – Scheibenquallen
Foto: Biodiversity Heritage Library | gemeinfrei
Polycyttaria – Vereins-Strahlinge
Foto: Biodiversity Heritage Library | gemeinfrei
Stephoidea – Ringelstrahlinge
Foto: Biodiversity Heritage Library | gemeinfrei
Muscinae – Laubmoose
Foto: Biodiversity Heritage Library | gemeinfrei
Orchidae – Orchideen
Foto: Biodiversity Heritage Library | gemeinfrei
Siphonophorae – Staatsquallen
Foto: Biodiversity Heritage Library | gemeinfrei
Trochilidae – Kolibris
Foto: Biodiversity Heritage Library | gemeinfrei

Am 9. August 1919 stirbt Ernst Haeckel in seiner Villa "Medusa" in Jena.
Seinen umfangreicher Nachlass und die Villa vermachte er der Universität.

Sozialdarwinistische Lehre, Rassenhygiene und Eugenik

Die Bedeutung Ernst Haeckels für die Durchsetzung der Evolutionstheorie in Deutschland wurde lange Zeit nicht gewürdigt, weil er mit zunehmendem Alter sozialdarwinistische Anschauungen entwickelt hatte: Die Evolution lehre, so Haeckel, dass stets nur eine bevorzugte Minderheit existieren und blühen könne, die Mehrheit dagegen verurteilt sei, vorzeitig zugrunde zu gehen. Ein Prozess, der allerdings notwendig sei für die "Vervollkommnung" des Menschengeschlechts. Auch wird er als einer der wichtigsten Wegbereiter der Rassenhygiene und Eugenik angesehen, denn er schreibt in seiner Schrift "Die Lebenswunder" aus dem Jahr 1904 unter anderem: "Hunderttausende von unheilbaren Kranken, namentlich Geisteskranke, Aussätzige, Krebskranke u.s.w. werden in unseren modernen Culturstaaten künstlich am Leben erhalten und ihre beständigen Qualen sorgfältig verlängert, ohne irgend einen Nutzen für sie selbst oder für die Gesammtheit." Kein Wunder, dass diese Ideen alsbald auch vom aufkeimenden Nationalsozialismus begierig aufgenommen wurde.

Die großartigen Bilder in den "Kunstformen der Natur" beeinflussten jedoch unzählige Kunstschaffende sowie Fotografen und Fotografinnen des angehenden 20. Jahrhunderts, bildeten eine der Grundlagen des Jugendstils und bleiben bis heute Quelle der Inspiration für Personen aus den Bereichen der Kunst, Kunsthandwerk, Bildhauerei und Architektur sowie für Zeichnerinnen und Zeichner. (Kurt Tutschek, 10.12.2022)

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