Annie Ernaux während ihrer Nobelpreis-Rede.

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Sie habe jetzt noch mehr Lust zu schreiben, sagte die französische Autorin Annie Ernaux am Dienstag im Rahmen ihrer Pressekonferenz zur Verleihung des Literaturnobelpreises in Stockholm diesen Samstag. Wie die Auszeichnung ihr Schreiben beeinflussen werde, konnte sie zwar nicht sagen. Sie wusste aber, sie wolle "weiterhin auf persönliche Weise schreiben". Es wäre auch überraschend gewesen, hätte die 82-Jährige ihr bisheriges Erfolgskonzept über Bord geworfen. 1940 in bescheidene Verhältnisse hineingeboren und in den patriarchalen Strukturen der Zeit aufgewachsen, schreibt Ernaux seit 1974 gegen diese Verhältnisse an: autobiografisch, emanzipatorisch, feministisch und antikapitalistisch die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Bedingungen erforschend.

Aber auch antisemitisch? Dieser Vorwurf wurde nach der ersten Freude über die heurige Gewinnerin in der "Jerusalem Post" und in den deutschen Feuilletons hörbar. Schließlich habe die engagierte Linke in der Vergangenheit die von manchen als isaraelkritisch, von anderen als antisemitisch eingestufte Kampagne "Boykott, Divestment, Sanctions" (BDS) unterstützt. Die erschöpfte sich aber sogleich wieder: Ernaux sei nicht antisemtisch und ihr Werk über alle Zweifel erhaben.

Warum schreiben?

So politisch wie dieses Werk mit seinem Blick auf die Gesellschaft gelesen werden muss, geriet dann auch die obligatorische Nobelpreis-"Lecture" Ernaux' am Mittwochabend in den Räumen der Schwedischen Akademie. In der Pressekonferenz tags zuvor hatte sie schon verkündet, Männer müssten ihre Einstellung ändern und sich ihres Lebensstils bewusst werden, anders wäre eine Befreiung der Frauen nicht möglich. Nun legte sie nach.

Wo beginnen? Diese Frage stand am Anfang von Ernaux’ Rede. Es wurde schließlich ein Satz zum Ausgangspunkt, den sie vor 60 Jahren in ihr Tagebuch geschrieben habe: "Ich werde schreiben, um mein Volk zu rächen". Gemeint ist damit: ihre Klasse. Sie sei damals 22 Jahre alt gewesen, hätte mit den Sprösslingen des Bürgertums studiert und gedacht, Bücher zu schreiben würde reichen, um die soziale Ungerechtigkeit qua Geburt, die sie als Nachfahrin von Arbeitern und kleinen Ladenbesitzern, die wegen ihrer Manieren, ihres Akzents und ihres Mangels an Bildung verachtet worden seien, erfahren habe, aufzuheben.

Nobelpreis-Rede von Annie Ernaux am Mittwochabend in Stockholm.
Nobel Prize

Seit sie zu lesen begonnen habe, seien Bücher ihre Gefährten. Ihre Mutter habe das gefördert – sie zog es vor, dass die Tochter las statt zu nähen und zu stricken. Ernaux erzählte in dem 20-minütigen Vortrag, wie sie sich selbst in die Romane von Flaubert oder Virginia Woolf hineinprojiziert habe, und das eigene Schreiben als Weg fand, die Realität zu transformieren. Aber auch, wie die gesellschaftlichen Erwartungen an eine Frau sowie das Leben als Ehefrau, Mutter, Hausfrau und Lehrerin sie immer weiter vom Schreiben und ihrem Ziel, ihr Volk zu rächen, weggebracht haben. Die Umstände hätten sie aber schließlich auch zum Schreiben zurückgeführt: zu einem Schreiben aus Dringlichkeit, welches das Unaussprechliche unterdrückter Erinnerung erforsche und ans Licht bringe. Ein Schreiben, das die Gründe verstehen wolle, warum sie sich von ihren Wurzeln distanziert habe.

Sprache, Tatsachen, Empfindungen

Die Schwedischen Akademie hatte in ihrer Begründung für die Zuerkennung des Preises an Ernaux deren klare, präzise, nüchterne Sprache gelobt. Auf jene ging sie auch in ihrer Rede ein: Denn sie habe eine Unmöglichkeit gespürt, in der Sprache der bewunderten Autoren über ihre Erfahrungen zu schreiben. Sie habe mit dem "guten Schreiben" und den "schönen Sätzen" brechen müssen zugunsten einer "Sprache, die Wut, Grobheit und sogar Spott" vermittle. Einer rebellischen Sprache, die von den Gedemütigten verwendet werde. Und ihr sei zudem bald klar gewesen, dass sie über Erlebnisse schreiben müsse, die sie selbst gemacht habe. Über das, was ihr zugestoßen sei.

Als sie zehn Jahre später ihren Vater ins Zentrum eines Buches stellte (Der Platz), musste sie aber eine neue Sprache finden, um einen Blick, den sie als Verrat am Vater wahrgenommen hätte, zu entgehen. So sei sie auf eine neutrale und objektive Art zu schreiben gekommen, ohne Anzeichen von Emotion. "Die Gewalt wurde nicht ausgestellt; sie kam von den Tatsachen selbst, nicht vom Schreiben", erklärte Ernaux. Worte, die zugleich die Wirklichkeit und deren Empfinden wiedergäben, suche sie seither. Wie diese Sprache gehört zu Ernaux' Werk die Erzählperspektive des "Ich". Dieses "Ich" sieht sie als "Werkzeug", um Empfindungen einzufangen, zu entschlüsseln und an andere zu vermitteln. Das "Ich" des Buches müsse dazu vom Ich des Lesers okkupiert werden. Dann könne ein Buch zu Veränderung führen.

Für Frauen, Gleichheit, Würde

"Wenn das Unaussprechliche ans Licht gebracht wird, ist das politisch", leitete die Autorin schließlich zum Aufstand der Frauen im Iran über. Frauen hätten dort die Worte gefunden, die männliche Macht zu stören. Die Welt zu entziffern, in einer Sprache frei von den Vorstellungen und Werten, die jede Sprache mit sich trägt, diene dazu, deren Ordnung auf den Kopf zu stellen und die Hierarchien zu stören, resümierte Ernaux.

Sie richtete aber auch Kritik an den Westen: Nicht nur gebe es dort Männer, die von Frauen geschriebene Bücher nicht wahrnehmen würden, weswegen die Auszeichnung für sie auch ein Hoffnungszeichen für alle Autorinnen sei. Es sei heute zudem verlockend, sich auf seine Kunst zurückzuziehen. Aber: Die in Europa sich auf dem Vormarsch befindliche Ideologie der Abschottung, der Krieg Russlands, das Zurücklassen der wirtschaftlich Schwachen, die Überwachung weiblicher Körper verpflichteten einen zur Wachsamkeit. Sie teile den Nobelpreis daher mit allen, die auf mehr Freiheit, Gleichheit und Würde aller Menschen hoffen, sowie mit jenen, die die Erde, die von einigen wenigen Profitgierigen zunehmend unbewohnbar gemacht werde, retten wollen.

Ob sie ihren Vorsatz, ihr Volk zu rächen, erfüllt habe, wisse sie nicht, schloss Ernaux. Sie habe aber daraus und aus ihren Vorfahren die Stärke gezogen, jenen einen Platz in der Literatur geben, inmitten der anderen Stimmen, die sie als Leserin begleitet und die ihr Zugang zu anderen Welten gegeben hätten. Wie auch zu jener rebellischen Lebensweise, ihre Stimme "als Frau, als soziale Überläuferin, in das einzuschreiben, das sich immer noch als Raum der Emanzipation zeigt: die Literatur". (Michael Wumitzer, 8.12.2022)