Er sieht im Wahn sein Opfer: der grandiose Ildar Abrazakov als von Schuld geplagter Boris Godunov.

Scala

Es ist Tradition, die Saison der Mailänder Scala exzentrisch zu eröffnen, nämlich am 7. Dezember, dem Tag des heiligen Ambrosius, den sie den Schutzpatron der Stadt nennen. Zum Eröffnungsbrauch gehören allerdings immer auch Demonstrationen, wobei gewerkschaftliche Proteste obligat sind (heuer gegen hohe Preise). Neu war, dass Klimaaktivisten das Haus mit Farbe beschmierten, und der Zorn über Dominique Meyers Entscheidung, Mussorgskys Boris Godunov angesetzt zu haben.

Ein russisches Werk parallel zum Angriffskrieg gegen die Ukraine? Das kann in diesen Tagen natürlich nicht unkommentiert bleiben, auch wenn die Entscheidung, dieses aufzuführen, vom ehemaligen Wiener Staatsoperndirektor Meyer lange vor dem 24. Februar getroffen worden war. "Stoppt Kriege, stoppt Russland, stoppt Putin", war da auf Plakaten zu lesen. Auch protestierten ukrainische Staatsbürger mit Slogans wie: "Wir lieben Dostojewski, weil er wusste, dass auf jedes Verbrechen eine Strafe folgt."

Innovatives Werk

Nun, das wusste auch Mussorgsky, der auch das Libretto nach dem Drama von Alexander Puschkin schrieb. Sein auch musikalisch innovatives Meisterwerk ist die hellsichtige Studie einer mörderischen Machtpsychose. Verführung, Einschüchterung und Misshandlung der Bevölkerung werden decouvriert. Passend zur heutigen Lage in Russland sichtbar auch die machterhaltende Funktion der Kirche als manipulative Gedankenpolizei.

Auch kann jeder Despot anhand von Godunov, der durch Schuldgefühle in den Wahnsinn kippt und stirbt (hier wird er erdolcht), studieren, wie die eigene Geschichte enden könnte ... In der Inszenierung von Kasper Holten sind weder Machtverklärung eines Brutalherrschers noch plumpe Anspielungen auf Putin zu sehen.

Imposante Bühne

In einem Bühnenbild, das von einer riesigen autobahnartigen Papierrolle geprägt ist, auf der die mittelalterliche Herrscherchronik verewigt ist, lässt Holten den Mord am rechtmäßigen Zarewitsch Dmitri (was Boris zur Macht verhalf) dauerpräsent erscheinen. Aus Gewissensbissen geborener Wahn lässt Godunov immer mehr tote Kinder sehen. Auch seine Sprösslinge erscheinen ihm blutüberströmt – als Boten seines eigenen Endes.

Holden ist, auf Arte war es zu sehen, ein virtuoser Handwerker, der öffentliche Machtdemonstration zu inszenieren versteht wie auch das Private des Monarchen. Chor und Solisten werden zwar konventionell geführt. Die Hauptfigur gibt Ildar Abrazakov aber mit nobler, ins immer Dramatischere kippender Intensität.

Tolles Orchester

Hohes Niveau um ihn herum: Ain Anger (als Pimen), Norbert Ernst (als Opportunist Schuisky) und Dmitry Golovnin (als Grigory) profitieren auch vom die geniale Kantigkeit des Werkes auskostenden Orchester unter Riccardo Chailly.

Zeugen waren neben Staatspräsident Sergio Mattarella und der neuen Regierungschefin Giorgia Meloni übrigens auch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Nach der italienischen wurde wohl auch speziell für sie vorab die Europahymne gespielt.

Moskau meldet sich

Die russische Regierung meldete sich umgehend zu Wort und begrüßte die Eröffnung der Saison an der Scala mit einer russischen Oper. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow nannte die Premiere angesichts der "Beseitigung der russischen Kultur" im Westen eine "Stimme in der Wüste". "Es gibt es noch einen Schimmer von Vernunft. Die Scala-Premiere mit 'Boris Godunow' zeigt, dass es absolut nicht notwendig ist, die russische Kultur abzuschaffen, die wunderbar und Teil des Erbes der Menschheit ist", kommentierte ein Sprecher Wladimir Putins die Premiere in der russischen Tageszeitung "Iswestija". (Ljubiša Tošic, 9.12.2022)