Wie werden die bald frei werdenden Führungspositionen besetzt?

Es scheint ein Thema der Zeit zu sein, dass sich Menschen "starke Führung" wünschen. Das geht aus einer aktuellen Sora-Umfrage hervor, in der sich die Vertrauenskrise gegenüber Parlamentsparteien ebenso manifestiert wie die Tatsache, dass mittlerweile ein starker Führer nicht mehr mehrheitlich abgelehnt wird.

Wie sieht diese Führungsfrage auf Unternehmensebene aus? Angeblich waren doch sehr viele Unternehmen bis jetzt auf dem Weg der Führung via Team, wenn nicht gar zur Selbstführung im agilen System, "Tribes" oder anderen Formationen. Top-Führungskräfte waren zumindest bis jetzt im Rollenwandel hin zu Ermöglichern, Coaches, Sparringpartnern. Also quasi auf dem Weg zur Selbstabschaffung.

Bald könnten Führungskräfte fehlen

Das scheint nicht ganz geklappt zu haben. Denn das Beraterhaus Deloitte erhebt aktuell unter über 160 heimischen Unternehmen, dass sie Führungsprobleme haben. Konkret: 60 Prozent stehen demnächst vor einer Pensionierungswelle (auch) auf Führungsebene und sind deshalb besorgt. Schon zuvor hatte das Beraterhaus Boston Consulting Group erfragt, dass Führungsjobs enorm an Attraktivität eingebüßt haben – verkürzt gesagt: Kaum jemand will noch einen Führungsjob.

Was ist da los? Dass gute Führung im Sinne der Ermächtigung der Anvertrauten eine ziemlich undankbare Aufgabe ist – zumindest zwischen Top-Management und der Belegschaft -, ist ja schon länger bekannt. Andererseits bedeutet Führungsfunktion Status und Geld. Und wiederum andererseits hieß es doch jahrelang, dass Führung im Sinne des klassischen Verständnisses (entscheiden, vorangehen, Belastungen für das Team relativ alleine tragen) out sei und solcherart Hierarchien, verstanden als "heilige männliche Ordnung", (Gerhard Schwarz) völlig gestrig wären.

Andere Führungsqualitäten gesucht

Nunmehr wird von Führungskräften verlangt, dass sie Sinn und Orientierung (!) geben, findet Deloitte heraus. Weiters sollen sie resilient, emotional intelligent, vertrauensfähig, veränderungsbereit, kooperativ, sozial flexibel sein. Das sind sämtlich gute Ansprüche. Nur offenbar kann oder will sie niemand erfüllen, der seine Karriere auf Führung getrimmt hat. Überwiegend sind das klassisch betriebswirtschaftlich, volkswirtschaftlich oder technisch graduierte Menschen. Führungspersonen ohne Titel, Führungspersonen aus einem fremden Stall – das ist eine verschwindende Minderheit.

Wenn die Ansprüche an Führungspersönlichkeiten schon ein solches Bündel an menschlichen Qualitäten sind – warum werden dann nicht ebensolche Menschen für Führung eingeladen? Warum läuft dann die Auswahl nach Ausbildung, Track-Record und Zugehörigkeit zur Habitus-Familie? Wieso wird dann nicht klar gesagt: Führung ist Dienstleistung mit Anliegen an Menschen, dafür wird sie auch entlohnt? Sowohl den Mangel als auch den Mismatch zwischen Anspruch und Wirklichkeit haben sich Unternehmen selbst gemacht. (Karin Bauer, 10.12.2022)