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Die Verhaftung einer der Vizepräsidentinnen im Europäischen Parlament ist ein Albtraum für die insgesamt 705 EU-Abgeordneten. Ganz besonders davon betroffen ist natürlich die Fraktion der Sozialdemokraten (S&D), der die aus Griechenland stammende Eva Kaili angehört beziehungsweise bis vor ein paar Stunden angehört hatte: Sie wurde ohne Zögern ausgeschlossen, auch aus ihrer griechischen Mutterpartei, der Pasok.

Ruf beschädigt

Natürlich gilt für sie, genauso wie für die laut Medienberichten weiteren vier verhafteten Personen, die Unschuldsvermutung. Aber allein das, was die zuständigen belgischen Ermittlungsbehörden bisher an Fakten rausgelassen haben, reicht aus, den Ruf des Europaparlaments massiv zu beschädigen: politisch, machtpolitisch im Verhältnis zu den anderen zentralen EU-Institutionen, und natürlich moralisch.

Es ist sind die Abgeordneten in Straßburg, die sich sonst immer besonders lautstark und besonders aufdringlich hervortun, Regierungen, ja ganze Staaten zu verurteilen und darin zu belehren, was gut und was böse ist.

Die bisher bekannten Vorwürfe wiegen schwer: Korruption und Geldwäsche. Für Bargeld und Sachgeschenke, mehrere hunderttausend Euro im Wert, soll Katar die europäischen Politiker und Mitarbeiter bestochen haben, um für die Fußball-WM gute Stimmung zu machen; dem Golfstaat große Fortschritte bei Arbeitsrecht und Umgang mit Gastarbeitern zu bescheinigen.

Und was das Schlimmste wäre: Es soll dazu gedient haben, Entscheidungsprozesse im Parlament zu beeinflussen.

Neben der Vizepräsidentin soll ein weiterer (ehemaliger) SP-Abgeordneter aus Italien mitgemacht haben, auch ein hochrangiger Funktionär des internationalen Gewerkschaftsbundes. Bizarrerweise sollen auch NGOs involviert sein, die sich für Menschenrechte stark machen, Kampagnen durchführen. Das alles wäre also quasi eine mafiaartige Aktion zugunsten des Golfstaates.

Fassungslosigkeit und Schockstarre

Kein Wunder, dass im EU-Parlament Fassungslosigkeit und Schockstarre herrschen. In einer solchen Lage gibt es nun eigentlich nur eine logische Konsequenz. Die Führung des Parlaments, Präsidentin Roberta Metsola, die bisher nur einen oberflächlichen Kommentar zur Causa abgegeben hat, muss die Sache persönlich in die Hand nehmen und dafür sorgen, dass die Fraktionen und die Abgeordneten selbst maximal zur Aufklärung beitragen.

Denn eines liegt nahe: Bei einer offenbar lange angelegten Bestechungsaktion solchen Ausmaßes werden wohl nicht nur Politiker der Sozialdemokraten "angesprochen" worden sein. Da muss in den Reihen der Abgeordneten mehr Wissen vorliegen, zumindest Verdachtsmomente, auch in anderen Fraktionen als der S&D.

Das sollte schleunigst auf den Tisch und kann nur bedeuten, dass die Parlamentarier gleich in der nächsten Woche einen Untersuchungsausschuss einsetzen, der alle Vollmachten bekommt, diese üble Sache zu prüfen. Aus früheren Skandalen im EU-Parlament weiß man, dass dieses sehr dazu neigt, Affären und Missbrauch in den eigenen Reihen zu verharmlosen, Journalisten an der Aufklärung zu hindern, Aufdecker eher zu vernadern als sie zu unterstützen. Das darf nicht passieren. Da könnte es um viel mehr gehen als nur um eine von vierzehn Vizepräsidenten und -präsidentinnen in der Volksvertretung in Straßburg.

Einfluss verloren

Das EU-Parlament hat im Zuge der Pandemie und auch des Krieges in der Ukraine seit längerem an Einfluss verloren im Vergleich zu EU-Kommission und Mitgliedsstaaten. Weder in Gesundheitsfragen noch bei Außen- und Sicherheitspolitik haben die Gesetzgeber viel mitzureden. Ihr größtes Kapital sind Vertrauen und moralischer Anspruch. Das steht auf dem Spiel – noch vor dem WM-Finale und außerhalb des Spielfeldes des Plenarsaales. (Thomas Mayer, 10.12.2022)