Der Verlobte gefallen, der Schwiegervater stumm: Paula Nocker als Trudel und Michael Dangl als Otto Quangels in "Jeder stirbt für sich allein"

Foto: Josefstadt/Ferrigato

Über 100 Postkarten schrieb der Tischlermeister Otto Quangel in den wenigen Monaten vor seinem Tod am Schafott im Spätherbst 1940. Gemeinsam mit seiner Frau verteilte er die Aufrufe gegen den nationalsozialistischen Unrechtsstaat in öffentlichen Gebäuden. "Wenn nur ein Einziger nicht im Gleichschritt geht, dann ist es das alles wert", ist der Handwerker überzeugt.

Kleiner Mann, ganz groß: Die Helden des Berliner Schriftstellers Hans Fallada waren jene, die von den anderen meist übersehen wurden, Arbeitslose und kleine Buchhalter oder, wie im 1947 erschienenen 700-Seiten-Roman Jeder stirbt für sich allein, der Werkmeister Quangel und dessen Frau Anna. Geraten sie in die Mühlen der Weltgeschichte, dann nimmt das meist keinen guten Verlauf. Die meisten zerbrechen an sich selbst, andere werden zwischen den sozialen und politischen Fronten aufgerieben. Der Bockerer könnte eine Fallada-Figur sein, wären dessen zumeist Berliner Figuren nicht aus einem gänzlich anderen Holz geschnitzt als der goscherte Wiener Fleischhauer.

Historisch verbürgt

Falladas historisch verbürgter Quangel ist ein Held der maulfaulen Art, dessen Ideen langsam vor sich hin reifen. Pointen wird man sich von ihm keine erwarten, nur das Mahlen des Kiefers verrät manchmal einen Gedankengang. In der Wiener Josefstadt gibt Michael Dangl diesen Widerständigen aus der Berliner Mietskaserne als komplett verstockten Kerl, der selbst den Front-Tod seines einzigen Sohns Franz (Tobias Reinthaller) mit stierem Blick entgegennimmt, während seine Frau (Susa Meyer) Halt an der Wohnungsmauer sucht. Nach der späten Renaissance des Romans aufgrund seiner Übersetzung ins Englische im Jahre 2009 und einer Verfilmung mit Emma Thompson und Brendan Gleeson vor einigen Jahren stellt die Josefstadt den Widerstandsroman jetzt erstmals als "musikalisches Schauspiel" auf die Bühne (Libretto von Susanne Lütje und Anne X. Weber).

So nennt Komponist Franz Wittenbrink, dessen Revuen und Liederabende auch hierzulande viele Fans haben, jedenfalls seine Adaption dieses weniger für seine Finesse als für seine ungebrochene Moral bekannten Arbeiterromans: Schwarz und Weiß sind in dieser Regiearbeit von Josef E. Köpplinger klar getrennt, die Figuren nahe am Klischee, die Sprache schnörkellos. Ein Werk, das nicht mehr verspricht als es ist.

All das ist wohl mit ein Grund, warum die Idee, aus diesem ernsten Stoff eine Art Musical zu machen, funktioniert. Schattierungen braucht es wenige, die von der fünfköpfigen Live-Band gespielte, zwischen Jazz, Weill und Schlager pendelnde Musik unterstreicht die Atmosphäre der Angst und Bedrohung, die rund um die brutalistische Hausruine herrscht, die Walter Vogelweider auf die Josefstädter Drehbühne gestellt hat.

Im Nachtklub Paprika trifft die Gestapo (Robert Joseph Bartl) auf eine Atmosphäre wie aus dem Berlin der 1920-Jahre. (rechts Marcello De Nardo)
Foto: Josefstadt Ferrigato

Wenn die Szenerie im Nachtklub Paprika spielt und der Gustaf-Gründgens-Verschnitt Max (Martin Niedermair) den Tisch zu seiner Schlagerbühne macht, verändert sich die Tonlage allerdings komplett. In dem im Roman nicht vorkommenden Etablissement klingt noch das Berlin der Zwanzigerjahre nach, mit einem genderfluiden Kellner (Marcello De Nardo) und einer rockröhrigen Wirtin (Nadine Zeintl). Auch dramaturgisch ist der Szenenwechsel ein guter Einfall, er hält den inhaltlich auf das Notwendigste abgespeckten Plot beinahe drei Stunden am Laufen: Während der mit einem feisten Grinsen ausgestattete Gestapo-Mann Prall (Robert Joseph Bartl) im Klub mit einem Auge auf das männliche Frischfleisch schielt, beobachtet er mit dem anderen die Aktivitäten der Widerstandgruppe samt der Franz-Verlobten Trudel (Paula Nocker).

Fallada hat das Mietshaus in der Jablonksistraße 58 als eine Art Mikrokosmos samt Angepassten, Strammstehern, Verfolgten und Widerständigen gezeichnet. Ihre Wege treffen sich hier und im Paprika pausenlos, und es ist keine kleine Leistung, wie Regisseur Köpplinger das über zwanzigköpfige Ensemble mit sicherer Handwerkshand orchestriert.

Die Verdichtung im zweiten Teil des Abends ist in erster Linie Raphael von Bargen zu verdanken, der als Kommissar den Postkartenfall polizeilich untersucht. Ein Mitläufer, den es innerlich zerreißt. Tischlermeister Quangel hat die Gewissensbefragung da schon längst hinter sich. Der Kampf des "einfachen Arbeiters gegen den Führer" ist entschieden – und die schiefen Töne am Beginn des Abends vergessen. (Stephan Hilpold, 11.12.2022)