Der Schädel eines der beiden Toten war im Rahmen der Einbalsamierung vor der Beisetzung aufgesägt worden. Wer der junge Adelige war, bleibt vorerst ein Geheimnis.

Foto: Inrap

Am 15. April 2019 gab es nur eine Nachricht: Notre-Dame brennt! Der Dachstuhl der prominentesten Kirche Frankreichs stand in Flammen, die Feuerwehr leistete Gewaltiges, um das Schlimmste zu verhindern. Die Bilanz am nächsten Vormittag nach dem offiziellen "Brand aus": Es hätte weit schlimmer kommen können. Der Dachstuhl inklusive Bleidach, der Turm über der Vierung (und damit der höchste Teil der Kirche) und Teile des Kreuzrippengewölbes im Hautschiff und einem Querschiff wurden zerstört, Mauerwerk und große Bereiche des Innenraums erlitten Schäden. Aber immerhin: Etwa 90 Prozent der beweglichen Kunstwerke und Reliquien konnten rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden.

Während durch die Katastrophe trotzdem viele Objekte von historischer Bedeutung verloren gingen, kamen beim Wiederaufbau neue Artefakte an Licht. Seit Februar 2022 nutzen Archäologinnen und Archäologen die Chance, einen genaueren Blick unter den Boden der über 800 Jahre alten Kathedrale Notre-Dame de Paris zu werfen. Dort befinden sich unter anderem die Überreste einer steinernen Mauer mit Durchgängen zu Haupt- oder Seitenaltären, die im Mittelalter nur die Priester passieren durften.

Unter dem Fußboden der Kathedrale Notre-Dame de Paris entdeckten Archäologinnen und Archäologen so manche historische Kostbarkeit.
Foto: Denis Gliksman, Inrap

Erster Blick per Endoskop

Teile einer solchen Chortrennung – auch Lettner genannt – aus dem 13. Jahrhundert hat das archäologische Team im vergangenen März entdeckt. Die Funde umfassten unter anderem einige bemalte Skulpturen, die wahrscheinlich einst die Außenseite des Lettners zierten. Für mehr Aufsehen freilich sorgte die Freilegung mehrerer Gräber sowie zweier Bleisärge direkt unter dem Kreuzungspunkt von Haupt- und Querschiff. Löcher im Kopfbereich eines der beiden Särge in Menschenform verschafften den Forschenden die Gelegenheit, mittels Endoskop-Kamera einen ersten Blick auf den Inhalt zu werfen.

Nun hat das Team über seine Erkenntnisse nach der Öffnung der Särge berichtet: Praktischerweise trug einer der beiden Bleisärge eine Messingtafel mit dem Namen des Verblichenen. Demnach handelt es sich um Antoine de la Porte, einen hohen Kirchenmann, der 1710 im Alter von 83 Jahren starb. Im Louvre hängt ein zeitgenössisches Gemälde, das den angesehenen und vermögenden Geistlichen während einer Messe in Notre-Dame zeigt ("La messe du chanoine Antoine de la Porte", Jean Jouvenet, 1710).

Die Särge waren in einem Labor der Universität von Toulouse III geöffnet worden.
Foto: DR UT3

"Der Reiter" gibt Rätsel auf

Die Identität der Person im zweiten Bleisarg blieb bisher jedoch ein Rätsel. Der prominente Beisetzungsort lässt ebenfalls auf eine wichtige Person schließen, wahrscheinlich einen Adeligen. Die Gebeine weisen ihn allerdings als deutlich jüngeren Mann aus: Er war zwischen 25 und 40 Jahre, als er starb. Er war wohl kein Zeitgenosse von de la Porte, sein Sarg stammte aus einer anderen Fundschicht, und er unterschied sich auch deutlich in der Machart.

Gesundheitlich hatte der junge Mann offenbar schwer zu kämpfen gehabt. Verformungen am Skelett sprechen für ein Leben auf dem Pferderücken, weshalb die Forschenden dem unbekannten Verstorbenen den Spitznamen "Le Cavalier" ("der Reiter") verliehen. Außerdem besaß er nur mehr wenige Zähne im Mund.

Eine Plakette verriet die Identität eines der Toten: Antoine de la Porte.
Foto: Denis Gliksman, Inrap

Geöffneter Schädel

Dem Toten waren vor der Beisetzung der Schädel und die Brust aufgesägt worden. Die Umstände weisen auf eine damals gängige Praxis bei der Einbalsamierung von Adeligen hin. Einige Beobachtungen an dem Skelett könnten laut Eric Crubézy, einem Anthropologen von der Universität von Toulouse III, auf die Todesursache hindeuten. Womöglich starb der Mann an den Folgen einer chronischen Meningitis im Zusammenhang mit einer Tuberkuloseerkrankung.

"Er hatte sicher ein schwieriges Lebensende", sagte Crubézy gegenüber dem "Guardian" auf einer Pressekonferenz. Außer den Knochen sind von dem Toten kein organisches Gewebe und nur wenige Textilreste im Sarg zurückgeblieben. Dafür fanden die Forschenden Rückstände von Blättern und Blumen, die wohl als Grabbeigaben gedient hatten.

Ein erstaunliches Gebiss

Im Vergleich zum jungen Adelsmann dürfte sich de la Porte bis ins hohe Alter guter Gesundheit erfreut haben, immerhin war er mit 83 Jahren noch immer im Besitz beinahe aller seiner Zähne. "Das Gebiss war in einem für sein Alter bemerkenswert guten Zustand. So etwas sehen wir sehr selten", sagte Crubézy. "Er hat sich offensichtlich um seine Zähne gekümmert."

Was jedoch nicht bedeutete, dass der Kleriker ein spartanisches Leben führte: Das Team fand Knochenveränderungen an einer großen Zehe, die wahrscheinlich von Gicht verursacht worden waren – einer arthritische Krankheit, die oft von übermäßigem Genuss von Fleisch, Meeresfrüchten oder Alkohol herrührt. (tberg, 16.12.2022)