Die Tage vor Weihnachten sind für die meisten Menschen etwas hektisch. Vor Feiertagen, Ferien und Jahreswechsel müssen viele Dinge erledigt werden: noch ein paar Einkäufe machen, Geschenke besorgen, überfällige Arbeiten erledigen, Besuche, dann kann man durchatmen. Nicht alles klappt.

Staats- und Regierungschefs geht es nicht viel anders – in beruflicher, also politischer Hinsicht. Gut zu beobachten ist das in der Regel beim "letzten EU-Gipfel des Jahres", wie es oft heißt. Sie versuchen für möglichst viele ungelöste Probleme Kompromisse zu finden, an denen sie monatelang gescheitert sind.

Schaut man auf die Ergebnisse, könnte man meinen: Alles wie immer, alles "ganz normal" im unfertigen gemeinsamen Europa. Nach stundenlangem Ringen wurde ein weiteres Sanktionspaket gegen Russland beschlossen. Und vor allem wurden die im wahrsten Sinn des Wortes lebensnotwendigen Zahlungshilfen für die Ukraine auf den Weg gebracht, 18 Milliarden Euro, die Ungarns Premier Viktor Orbán blockiert hatte.

Ist alles "ganz normal" im gemeinsamen Europa?
Foto: REUTERS/ YVES HERMAN

Auch andere Staaten hatten, wie so oft, mit Vetos gebremst, nationale Interessen gepusht. Österreich tat sich hervor, indem es auf die Dringlichkeit irregulärer Migration über die Balkanroute hinwies, "bekam" dafür einen Sondergipfel zum Thema im Februar.

Das EU-Energiepaket, das für niedrigere Gaspreise, Energiesicherheit und einen Schub bei der Erzeugung erneuerbarer Energie sorgen soll, wurde erneut aufgeschoben. Leider. Nicht hilfreich in der sich verschärfenden Wirtschafts-, Zins und Inflationskrise. Das Gleiche gilt, was die Handelsbeziehungen zu den USA, den Streit um ein US-Subventionsprogramm gegen Inflation angeht. Es wurde nur geredet.

Schwierige Mitglieder

Man könnte also meinen, in der EU mit ihren vielen schwierigen Mitgliedern läuft alles wie immer. Es wird lange debattiert, am Ende findet man doch irgendwie zusammen. Das ist sicher die gute Seite in der Gemeinschaft.

Die hässliche Seite freilich ist: Wir leben in Zeiten, in denen es immer gefährlicher wird, wenn 27 Staaten, die einzeln in der Welt unbedeutend wären, stets dem kleinlichen nationalen Egoismus anheimfallen dort, wo ein globaler Blick und tatkräftiges Handeln nötig wären. Das gemeinsame Europa ist schwach, aber es zerbricht nicht, es hält zusammen. Noch zumindest. Das ist es, was die Bürgerinnen und Bürger Europas aber besonders beunruhigen müsste.

Denn 2022 war kein normales Jahr. Es war ein Kriegsjahr. Dieser Krieg könnte langsam und schleichend alles verändern und infrage stellen, was die Europäer sich in jahrzehntelangen Friedenszeiten aufgebaut haben, wenn sie keine Antwort auf die Bedrohungen finden.

Frankreichs Präsident rechnet damit, dass der grausame Eroberungskrieg Russlands gegen die Ukraine 2023 voll weitergeht. Das heißt: Die Energiekrise bleibt bedrohlich, schwere Rückschläge für Wirtschaft und Sozialpolitik sind zu erwarten. Darauf muss man sich einstellen. Wladimir Putin macht keine Anstalten, dass er Frieden will, stellte der deutsche Kanzler Scholz fest. Man sollte sich also für 2023 keinen Illusionen hingeben, naiv auf Friedensverhandlungen hoffen.

Die entscheidende Frage für die EU der 27 Nationalstaaten wird sein, ob sie gemeinsam stärker werden: strukturell. Das Klein-Klein wird nicht mehr lange reichen, die Methode, sich wechselseitig ständig zum Stolpern zu bringen. Der Krieg wird uns zur Änderung zwingen. (Thomas Mayer, 16.12.2022)