Ihren Namen haben sie von dem Sitz der Götter der nordischen Mythologie Asgard: Die "Asgard-Archaeen" gehören zu einer besonderen Gruppe von Mikroorganismen, die sich mitunter durch tentakelartige Fortsätze auszeichnen. Viele von ihnen mögen es heiß, wichtige Forschungsproben wurden neben Lokis Schloss entnommen, einem Feld hydrothermaler Schlote in der Tiefsee. Und auch die Lebewesen, die sich hier ansiedeln, sind mitunter komplexe und verwirrende Figuren – wie der mythologische Loki.
Einige von ihnen sind aber auch in Wien zu finden – oder an der Küste von Piran in Slowenien, wo die Mikrobiologin Christa Schleper von der Universität Wien und ihr Team ihre Proben gewonnen haben. Schleper wurde für ihre Archeenforschung in diesem Jahr mit dem "österreichischen Nobelpreis" ausgezeichnet und zählt zu den meistzitierten Forscherinnen des Landes. Nun hat sie es wieder ins renommierte Fachmagazin "Nature" geschafft: Ihrem Team gelang es, eine nicht gerade kooperative Spezies der Asgard-Archaeen im Labor zu züchten und Neues über die Entwicklung der höheren Zellen herauszufinden.
Uralte Lebewesen
Die drei großen Kategorien, in die Lebewesen eingeteilt werden, sind neben Archaeen die Bakterien und die Eukaryoten – Letztere haben einen Zellkern, werden als "höhere Zellen" bezeichnet und umfassen etwa Tiere, Pflanzen und Pilze. Vor zwei Milliarden Jahren vereinigten sich einfache Mikroben zu diesen höheren Zellen.
Hauptakteure waren damals wohl die Asgard-Archaeen, die viele Merkmale höherer Zellen besitzen: unter anderem ein Zellskelett aus verzwirbelten, doppelsträngigen Fasern, wie das Wiener Forschungsteam herausfand. Christa Schleper, die am Department für Funktionelle und Evolutionäre Ökologie der Uni Wien forscht, spricht von einem "sensationellen Organismus mit echtem Zytoskelett".
An der slowenischen Küste entnahm ihr Team Proben von Meeressedimenten und kultivierte darin befindliche Asgard-Archaeen der Spezies Lokiarchaeum ossiferum im Labor. "Es hat sechs lange Jahre gedauert, eine stabile und hoch angereicherte Kultur zu erhalten", wird die Mikrobiologin in einer Aussendung zitiert.
Langzeitvermehrung und Schockfrost
Diese empfindlichen Organismen würden sich nur alle ein bis zwei Wochen teilen. Eine vergleichsweise langsame Vermehrung: Beim üblichen Labor-Modellorganismus Escherichia coli geht dies in zwanzig Minuten vonstatten. Schließlich hatten die Wiener Forschenden L.-ossiferum-Kulturen von 50 Millionen Zellen pro Kubikzentimeter und konnten schockgefrorene Mikroben im Elektronenmikroskop beäugen.
Die Zellen zeigen eine runde Form und haben teils sehr lange, tentakelähnliche Fortsätze, wie die Forschenden zeigen: "Diese Gebilde scheinen manchmal sogar unterschiedliche Zellkörper miteinander zu verbinden." Außerdem enthalten sie "ein ausgedehntes Netzwerk aus Aktin-Filamenten", das bei höheren Zellen etwa für die (Muskel-)Bewegung essenziell ist. Ein solches Netzwerk war bisher auch nur von eukaryotischen Zellen bekannt. "Das weist darauf hin, dass solche Zellskelett-Strukturen schon in Archaeen entstanden sind", schreibt das Team.
Bewohner Wiens
Die Erfahrung bei der Kultivierung von L. ossiferum wolle man nun bei anderen Asgard-Archaeen einsetzen. "Sie sind auch Bewohner Wiens, zum Beispiel im Ufersediment der Donau", macht das Forschungsteam deutlich. Damit wolle man mehr über das mögliche Bindeglied erfahren zwischen einfachen zellkernlosen und unstrukturierten Prokaryotenzellen und den kompliziert aufgebauten Eukaryotenzellen mit eigenem Zellkern, ausgeprägtem Zellskelett, Zellkraftwerken (Mitochondrien) und teils Chloroplasten (Bestandteile der Pflanzen, die Fotosynthese betreiben).
Dass diese Grundlagenforschung wichtig ist, wurde auch kürzlich in einem Leitartikel in "Nature" betont: "Wenn es eine Linie zwischen der Grundlagenforschung und der Anwendung gibt, dann wird sie wahrscheinlich nicht gerade verlaufen", heißt es darin. "Stattdessen wird sie wahrscheinlich einer Zeichnung eines Labyrinths ähneln, mit vielen Kreisen, Abzweigungen und Sackgassen." Dafür ist Geduld notwendig – wie bei Schlepers Team, das sechs Jahre an der Kultivierung der Asgard-Archaeen arbeitete. Doch wie so oft könnten sich Anwendungsmöglichkeiten von der Medizin bis zur Materialwissenschaft ergeben, die heute noch niemand prophezeien kann. (sic, APA, 21.12.2022)