Missstände in der Tierhaltung bringen Landwirte wie Gütesiegel unter Druck. AMA-Marketing-Chef Michael Blass weist Vorwürfe des Handels über zahnlose Kontrollen scharf zurück. Bei den Preisen für Lebensmittel sieht er die Spitze noch nicht erreicht.

Michael Blass: "Um es mit Ingeborg Bachmann zu sagen: Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar."
Foto: Helena Manhartsberger

STANDARD: Schwerverletzte Schweine zwischen verwesten Artgenossen. Hühner auf engsten Raum gepfercht, die von einem Laster überfahren werden. Wie passen Skandale wie diese mit dem Bild von Landwirtschaft zusammen, für das die AMA wirbt?

Blass: Für gutes Wirtschaften kann nur der Betrieb selbst sorgen. Unsere Rolle besteht darin, dass wir ein Regelwerk vorgeben, dieses erklären, Hilfestellung leisten und kontrollieren, ob die Auflagen umgesetzt werden. Diese Kontrollen passieren effizient und in großer Dichte. Jährlich sind es 17.000. Gut 15.000 davon finden in der Landwirtschaft statt.

STANDARD: Zuletzt haben die Kontrollen offenbar mehrfach versagt.

Blass: Der Vorwurf zahnloser Kontrollen, den ein Handelskonzern erhoben hat, geht völlig ins Leere. Diese Kritik ist in erster Linie selbstbeschädigend. Man beschädigt damit das eigene Sortiment. Es schadet jedoch auch Mitbewerbern und Lieferanten. Leidet das AMA-Gütesiegel, leiden alle starke Marken. Das Einmaleins der Konsumentenpsychologie sollte jeder von uns intus haben.

STANDARD: Warum braucht es Tierschützer, um Missstände aufzudecken – wäre das nicht Job der AMA?

Blass: Wir kommen vielen auf die Spur und machen das in Berichten an den Nationalrat transparent. Wer gegen unsere Richtlinien verstößt, stellt sich außerhalb der Solidargemeinschaft. Das ist wie Geisterfahren, das wird nicht geduldet. Wir haben vier Sanktionsstufen. Bei der vierten wird der Betrieb gesperrt. Was man sich aber durch den Kopf gehen lassen sollte: Von Veterinären wird Nutztierhaltung zu zwei Prozent jährlich kontrolliert – in 50 Jahren wird ein Betrieb also einmal besucht. Wir kontrollieren einmal im Jahr. Gibt es keine Beanstandung, können Intervalle erstreckt werden, was natürlich mit Kosten verbunden ist. Hier denken wir über Intensivierungen nach. Und wir müssen Daten zukünftig besser vernetzen, um Frühwarnsysteme aufzubauen.

STANDARD: Wie stark hat das AMA-Gütesiegel durch Einblicke hinter ansonsten meist verschlossene Stalltüren an Glaubwürdigkeit verloren?

Blass: Glaubwürdigkeit ist der Goldstandard, um den wir ringen. Unsere Berichte werden in Zukunft noch transparenter. Um es mit Ingeborg Bachmann zu sagen: Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar. Nach dieser Devise gilt es in der gesamten Lebensmittelwirtschaft zu agieren.

STANDARD: Konventionelle Tierhaltung ist kein Streichelzoo. Die AMA-Werbung suggerierte heimelige Idylle.

Blass: Transparenz ist zumutbar. Konsumenten erhalten diese auch in vollem Ausmaß. Sie fragen mich, warum nicht wir Absender schrecklicher Bilder sind? Die Rolle von NGOs ist es, zu bewerten, zu kritisieren, zu fordern. Wir sichern Qualität, fördern Absatz und Kommunikation. Unsere Partner in der Landwirtschaft wollen von uns natürlich ihre Leistungen betont wissen.

STANDARD: Das Wissen über Nutztiere in der Bevölkerung ist gering. Liegt es daran, dass viele Ställe mittlerweile eine Blackbox sind?

Blass: Es entstand ein Gap zwischen ländlichen Gesellschaften und urbanen Eliten. Viele Vorstellungen über Landwirtschaft sind von Schweinen als Fabelwesen und herzigen Hühnern unterm Apfelbaum geprägt.

Michael Blass: "Der Handel rabattiert Lebensmittel so stark, dass einem das Ohrensausen kommt."
Foto: Helena Manhartsberger

STANDARD: Landwirte und Fleischindustrie sprechen gerne von wenigen schwarzen Schafen. Doch haben viele Probleme nicht System? Masthühner etwa wurden völlig überzüchtet.

Blass: Wie funktioniert in unserer arbeitsteiligen Gesellschaft, wo Lebensmittel als Konsumgut angesehen wird, das jederzeit günstig verfügbar ist, Produktion? Hier klaffen nicht sehr realistische Erwartungen der Menschen und die Wirklichkeit auseinander. Wir versuchen, noch präziser zu informieren. Wesentlich jedoch ist: Der größte Teil der Betriebe arbeitet gut und ordentlich. Wo Fehler passieren, gibt es meist Muster: Es sind Betriebe mit Menschen mit gesundheitlichen, familiären, sozialen Problemen. Dafür brauchen wir Früherkennungssysteme.

STANDARD: Die AMA wollte stets so viele Betriebe wie möglich unter ihr Dach holen. Waren höhere Tierschutzstandards zu lange zweitrangig?

Blass: Wir haben erhebliche Fortschritte erzielt, von Gentechnikfreiheit bis hin zur Einzeleikennzeichnung. Die AMA-Marketing hat aber den Anspruch, Qualität in der landwirtschaftlichen Produktion insgesamt zu heben. Sobald dieses Treppchen bestiegen ist, kommt das nächste.

STANDARD: In der Schweinemast hebt sich Österreich kaum von EU-weiten Vorgaben ab. Verbesserungen passieren nur in Trippelschritten.

Blass: Es ist ein Markt, der beliebte Lebensmittel zu extrem niedrigen Preisen anbietet. Es soll in Zeiten hoher Inflation nicht zynisch klingen, aber wenn ein Tier auf den Teller kommt, muss man sich fragen: Wie viel ist es uns wert? Ist es uns nichts wert, kommt durch die Hintertür die Konfrontation mit einer Realität, in der unter wirtschaftlich schwierigen Bedingungen produziert wird. Wir bieten Tierwohlprogramme an: Immer wieder bleiben diese im Regal liegen. Weil man Unterschiede speziell bei Schwein oft nicht schmeckt. Weil der Handel Lebensmittel so stark rabattiert, dass einem das Ohrensausen kommt.

STANDARD: Macht es sich der Gesetzgeber nicht zu einfach, wenn er den Ball den Konsumenten zuspielt und an der Supermarktkasse über Tierleid abstimmen lässt?

Blass: Konsumenten wurden über Jahrzehnte darauf konditioniert, günstig einzukaufen. Der Lebensmittelhandel stellt gern das beste als das billigste Angebot dar. Wir greifen zu, weil wir keinen Unterschied schmecken. Zugleich wissen wir, dass das nicht richtig sein kann. Für diesen Zwiespalt kann man nicht die Politik verantwortlich machen.

STANDARD: Sollte Werbung für Billigfleisch verboten werden?

Blass: Werbeverbote führen nur zu Umgehungen. Es braucht vielmehr die Schärfung des gesellschaftlichen Bewusstseins. Wir müssen uns damit beschäftigen, wie die Welt in 15 Jahren aussehen kann. Branchen, die von Personen gelenkt werden, auf die das Klischee der alten weißen Männer zutrifft, tun sich damit aber oft schwerer. Auch wer wirtschaftlich ständig ums Überleben kämpfen muss, hat dazu wenig Gelegenheit. Meine Nachfolgerin wird mit der Landwirtschaft einen Zukunftsdialog führen.

STANDARD: Große Handelsketten machen der AMA stark mit eigenen Gütezeichen Konkurrenz. Was können diese besser?

Blass: Bei den meisten Tierwohlprogrammen machen wir als AMA die Absicherung. Wir sind ihr Rückgrat. Umso unverständlicher ist es, wenn der Handel uns angreift. Eigenmarken des Handels sind keine Gütesiegel, denn Gütesiegel kann man sich nicht selbst verleihen. Tierwohlprogramme auszurollen ist gut. Viele unterschiedliche Standards führen letztlich jedoch zu einer Inflationierung des Verständnisses dafür.

STANDARD: Wie weit ist die freiwillige Kennzeichnung der Tierhaltung gediehen, an der die AMA und Supermarktketten arbeiten?

Blass: Sie ist so gut wie fertig, man muss sie nur wollen. Setzt man Konsumenten ein Modell A, B und C vor, kann man sich aber das Geld dafür gleich sparen. Es würde kein Konsument in dieser Komplexität verstehen. Was es braucht, ist ein einheitliches System.

STANDARD: Werden sich Nahrungsmittel 2023 weiter verteuern?

Blass: Ich fürchte, ja. Denn die Energiekosten schlagen überall durch.

STANDARD: Holen sich viele Betriebe im Windschatten der Inflation nicht auch ein Körberlgeld und erhöhen ihre Preise über Gebühr?

Blass: Wir würden in einer idealen Welt leben, wäre dies nicht der Fall.

Michael Blass: "Vorstellungen über Landwirtschaft sind von Schweinen als Fabelwesen geprägt."
Foto: Helena Manhartsberger

STANDARD: Sie beobachten und prägen den Lebensmittelmarkt seit Jahrzehnten. Was war die größte Zäsur?

Blass: Der EU-Beitritt, als Österreich von einer Insel zum Kontinent wurde. In meiner Kindheit hatte ein Lebensmittelgeschäft 60 bis 100 Artikel, größtenteils Rohstoffe, die man zubereiten musste, was die Kapazitäten einer Person im Haushalt, damals meist der Frau, gebunden hat. Heute hat ein durchschnittlicher Supermarkt 5000 Artikel. Fertigprodukte entlasten Familien. Die Kehrseite der Medaille: Viele fragen sich angesichts des riesigen Angebots, wie sie handeln sollen. Sind Systeme richtig, die Überfluss produzieren? Wir werden vieles anders machen müssen, wenn wir unsere Erwartungen als Konsumenten und die Realität besser miteinander verknüpfen wollen.

STANDARD: Sie waren stets ein scharfer Kritiker der wachsenden Konzentration im Lebensmittelhandel.

Blass: Offenes Zurschaustellen von Nachfragemacht findet nicht mehr statt. Vor 30 Jahren landeten noch jede Woche vier Briefe auf meinem Schreibtisch, in denen der Lebensmittelhandel Konditionen, Rabatte, Zusatzleistungen verlangte. Mittlerweile sank die Transparenz. Ich versuche, es jetzt in ein positives Licht zu rücken: Hat man so viel Macht in Händen wie der Lebensmittelhandel, trägt man hohe Verantwortung für die Ethik der Märkte. (Verena Kainrath, 25.12.2022)