Deutschland steigt mit April endgültig aus der Atomenergie aus. Andere Länder planen neue Reaktoren.

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Politisch war der Abend des 5. November 1978 wohl einer der spannendsten der Zweiten Republik: An jenem Tag hatte die Volksabstimmung über die Nutzung der Atomkraft in Österreich stattgefunden – und das Ergebnis war so knapp, dass der Statistiker Gerhard Bruckmann im Fernsehen alle halben Stunde eine andere Prognose des Ausgangs errechnete. Schließlich entschied ein Überhang von 30.068 Stimmen: Kernkraft ist nichts für Österreich, das damals gerade fertiggestellte AKW Zwentendorf durfte nicht in Betrieb gehen.

Das Ergebnis wurde lange als Irrtum der Geschichte betrachtet. Vor allem die SPÖ verbreitete jahrelang, dass es jederzeit – außer eben am 5. November 1978 – eine Mehrheit für die Zwentendorf-Inbetriebnahme gegeben hätte. Und noch im Frühjahr 1986 drängte der damalige SPÖ-Vizechef Heinz Fischer auf eine neue Volksabstimmung. Dann passierte das Reaktorunglück im sowjetischen Tschernobyl – und danach wollte sich kaum noch jemand in Österreich zur Atomkraft bekennen, weder in der Politik noch in der
E-Wirtschaft. Bis heute rüttelt niemand am Grundsatz des "atomfreien" Österreichs, der seit 1999 im Verfassungsrang steht.

Lieber Photovoltaik

Und in der Bevölkerung? Da wurde der Atomenergie ebenfalls ab geschworen – ganze Wahlkämpfe, speziell in Niederösterreich, wurden mit Warnungen vor Atomgefahren, vor allem vor solchen durch grenz nahe AKWs in Nachbarländern, geführt. Fragt man heute, welche Energieträger für die künftige Stromproduktion in Österreich Akzeptanz finden, so landet die Atomkraft an letzter Stelle.

DER STANDARD ließ diese Frage im Dezember durch das Linzer Market-Institut 800 repräsentativ ausgewählten Wahlberechtigten vor legen. Photovoltaik landet mit einer Zustimmung von 71 Prozent der Befragten unangefochten auf dem ersten Platz, gefolgt von Windrädern (54 Prozent), Wasserkraftwerken an großen Flüssen (50 Prozent) und Biomasse (37 Prozent).

Ganz am Ende der Skala zeigt sich: 62 Prozent lehnen die Atomenergie nach wie vor kategorisch ab – nur fünf Prozent finden sie auf jeden Fall akzeptabel.

Kernkraft wieder auf Vormarsch

Doch außerhalb von Österreich erlebt die Kernkraft in Europa eine kleine Renaissance. Frankreich, das mit 70 Prozent einen so großen Anteil seines Energiebedarfs wie kein anderes Land der Welt aus Kernenergie abdeckt, setzt weiter voll auf Atomkraft. Ab 2028 sollen sechs neue große Reaktoren entstehen – und man behält sich die Option vor, acht weitere bis 2050 zu bauen.

Polen plant schon seit längerem einen Atomeinstieg. Im Oktober hat die Regierung den Auftrag zum Bau der drei ersten Kernreaktoren an der Ostsee vergeben. 2033 sollen sie in Betrieb gehen – sehr zum Ärger Deutschlands. Dort war man einst stolz auf seine Reaktoren, doch dann wurde zur Jahrtausendwende der Atomausstieg beschlossen, später teilweise zurückgenommen und dann nach Fukushima doch wieder forciert. Vergangenes Jahr wurde die Laufzeit der deutschen AKWs dann ein wohl letztes Mal verlängert. Wegen der Energiekrise sollen die letzten Reaktoren statt bis Jahresende 2022 nun bis höchstens April am Netz bleiben.

Kernkraft ist jetzt "grün"

Auch auf EU-Ebene betrachtet man Atomstrom nicht per se als verwerflich. Seit 1. Jänner gilt die EU-Taxonomieverordnung, welche die benötigten Milliarden für die Klimawende mobilisieren soll und festlegt, welche Investitionen als nachhaltig gelten. Laut ihr ist Atomkraft, wie auch Gas, "grün" – eine Entscheidung, die Österreichs Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) juristisch kippen lassen will. Bisher vergeblich.

Viele sehen die Kernenergie als Lösung für die Klimakrise – oder zumindest als Brückentechnologie, bis Europa vollständig mit erneuerbaren Energien läuft. Aus den riesigen Kühltürmen strömt immerhin nur Wasserdampf und kein schädliches CO2. Ganz klimaneutral ist allerdings keine Energieform, auch die Kernkraft nicht. Der Weltklimarat schätzte die CO2-Emissionen pro Kilowattstunde Atomenergie auf rund zwölf Gramm, in etwa so viel wie bei Windenergie.

Der Kontrollraum des nie in Betrieb gegangenen Atomkraftwerks Zwentendorf.
Foto: Philip Pramer

Letztere produziert keinen Atommüll, dafür aber auch keinen Strom bei Flauten. Mehr noch als den geringen CO2-Fußabdruck heben Atomkraftverfechter deshalb hervor, dass Nuklearreaktoren grundlastfähig sind, während die Speicherfrage bei erneuerbaren Energien noch großteils ungelöst ist.

Chaos in Frankreich

Dass man sich auch auf AKWs nicht immer verlassen kann, zeigte der vergangene Sommer: Bei vielen französischen Reaktoren traten technische Probleme auf, dazu führten wegen der Hitzewelle viele Flüsse weniger Wasser, das die Kraftwerke jedoch zur Kühlung brauchen. Zeitweise war mehr als die Hälfte der 56 Reaktoren ausgeschaltet. Die Strompreise explodierten nicht nur, weil russisches Gas, sondern auch französischer Atomstrom fehlte.

Um die europäische Energieversorgung auf emissionsarmen Strom umzustellen, ist der Bau neuer Atomkraftwerke vielleicht ohnehin zu träge und zu teuer. Der dritte Reaktorblock des Kraftwerks Olkiluoto in Finnland wurde etwa 2021 mit 13-jähriger Verspätung fertig, auch der britische Meiler Hinkley Point C verzögerte sich um Jahre und kostete Milliarden mehr als geplant.

Ganz anders stellt sich die Situation dar, wenn die Reaktoren bereits existieren und frühzeitig abgeschaltet werden – wie in Deutschland. Dort stellen selbst manche Klima aktivistinnen und -aktivisten den Ausstieg infrage. "Wenn sie schon laufen, glaube ich, dass es ein Fehler wäre, sie abzuschalten und sich der Kohle zuzuwenden", sagte etwa die Klimaaktivistin Greta Thunberg im Oktober, angesprochen auf den deutschen Atomausstieg.

Die Laufzeit bestehender Atomkraftwerke zu verlängern ist zudem eine der günstigsten Arten der Stromgewinnung, wie Zahlen der Internationalen Energieagentur (IEA) zeigen. Rund 43 US-Dollar kostet eine Megawattstunde aus einem vorhandenen Kernkraftwerk im Jahr 2040, aus einem neuen hingegen 110 US-Dollar.

Schrumpfung als Lösung

Eine schnellere Lösung soll eine Technologie bringen, die es eigentlich bereits seit den 1950er-Jahren gibt und die nun Länder wie Großbritannien und Tschechien vorantreiben. Miniaturisierte Kernreaktoren, sogenannte Small Modular Reactors (SMR), treiben schon seit Jahrzehnten U-Boote und Flugzeugträger an. Künftig sollen sie eine Rolle in der zivilen Energieversorgung spielen. Je nach Lesart des Begriffs sind Reaktoren mit einer Leistung unter 300 Megawatt oder Reaktortypen mit bis zu 500 Megawatt gemeint. Das Kraftwerk Temelín hat im Vergleich dazu eine Leistung von über zwei Gigawatt. Die Idee der zivilen Nutzung von Kleinreaktoren ist nicht neu, bereits 1964 gab es im US-amerikanischen Minnesota einen Kernreaktor mit 22 Megawatt Leistung. Nach vier Jahren setzte ihm ein irreparables Leck im Kühlsystem ein Ende.

Ein Durchbruch in einem Kernfusionslabor nährt die Hoffnung auf sichere Atomenergie.
Foto: Lawrence Livermore National Laboratory via Reuters

Vor allem Anhänger des "Ökomodernismus" wie Bill Gates setzen auf SMR – und investieren hunderte Millionen. Bei der Entwicklung von Kleinreaktoren, die statt mit Uran mit dem sichereren Thorium betrieben werden sollen, mischt auch das Grazer Unternehmen Emerald Horizon mit. Die Technologie soll "bald" einsatzbereit sein, heißt es in einer Aussendung des Unternehmens vom Dezember. Forschende bezweifeln das.

Hoffnung auf Fusion

Ein Durchbruch in einem kalifornischen Kernfusionslabor im Dezember machte außerdem Hoffnung auf eine alternative Lösung der Energieprobleme. Bei der Kernfusion werden Wasserstoffatome verschmolzen statt Uranatome gespalten – dabei fällt kein langlebiger Atommüll an, noch ist die Gefahr eines Super-GAUs wie in Tschernobyl gegeben. Einige Forschende datieren den kommerziellen Einsatz der Kernfusion auf die zweite Hälfte des 21., andere erst auf das 22. Jahrhundert. Das CO2-Budget für die Erreichung des 1,5-Grad-Ziels ist hingegen schon in den nächsten Jahren aufgebraucht.

Die Frage nach der baldigen Nutzung der Kernfusion ist also rein hypothetisch – dennoch trifft sie in Österreich auf Skepsis. Nur zwölf Prozent sind unbedingt dafür, diese Technologie künftig für Österreich zu nutzen, vier von zehn Befragten wollen Kernfusion "sicher nicht" in Österreich haben. Die neuartige Technologie wird von Befragten in einen Topf mit der Kernspaltung geworfen.

Nur 16 Prozent für Kernspaltung

Im Fall der konventionellen Atomenergie fragte Market konkret nach: Ob Atomkraftwerke in Österreich gebaut werden sollten, um unser Land von Importen aus Russland oder Katar unabhängig zu machen – oder ob "diese Technologie zu gefährlich und die Frage des Atommülls nicht geklärt ist" und Österreich daher auf Atomkraft verzichten sollte. Die Antworten sind auch hier eindeutig: Nur 16 Prozent können sich mit der Atomkraft anfreunden, 77 Prozent sind dagegen, der Rest weiß bei diesen Alternativen keine Antwort.

Wobei sich zeigt, dass unterschiedliche Bevölkerungsgruppen auch unterschiedlich stark gegen die Atomkraft positioniert sind. Jeder vierte Mann, aber nur jede elfte Frau befürwortet Kernkraft.Auch jüngere Befragte und Freiheitliche sind eher offen für Atomkraft. Letzteres ist erstaunlich: In den 1970er- und frühen 1980er-Jahren war es gerade die Freiheitliche Partei, die am klarsten gegen Atomenergie positioniert war – in der SPÖ-FPÖ-Koalition unter Fred Sinowatz (1983-1986) war es die FPÖ, die eine neue Abstimmung über Zwentendorf verhindert hat.

Auffällig ist, dass Österreich eine lebendige Tradition hat, wenn es darum geht, gegen bestimmte Projekte zu sein. Man ist hierzulande gegen Atomkraft, gegen Kernfusion, im Fall konkreter Projekte gegen Wasserkraft, in Bundesländern wie Kärnten sogar gegen den Ausbau der Windkraft. Doch generell ist die Akzeptanz erneuerbarer Energie hoch, auch wenn uns die Windräder im benachbarten Bundesland lieber sind als jene im eigenen.

Entscheidend wird aber die Akzeptanz großer Maßnahmenbündel sein, die tatsächlich wirksam den Klimawandel begrenzen. (Reinhard Kleindl, Philip Pramer, Conrad Seidl, 6.1.2022)