Essende und verdauende Politiker soll man nicht stören, wusste Elias Canetti, ein Vordenker puncto Macht und Nahrungsaufnahme. Derlei könnte in Bälde jedoch öfter geschehen – denn das neu renovierte Parlament bekommt auch eine komplett neue Kantine. Und dort können nicht nur die Parlamentarier speisen, sondern auch Besucher. Wir waren vorkosten. Per Lift geht es ins Dachgeschoss. Holz dominiert das Interieur des Kelsen, kalt ist hier aber nicht nur das LED-Licht. Noch ist die Atmosphäre kühl und leer. Und man fragt sich, wie man in den wenigen Tagen bis zur offiziellen Eröffnung am 16. Jänner noch Wärme und Cozyness in das Mega-Lokal bringen will. Noch wirkt es wie eine Hotellobby, in der man nur Platz genommen hat, weil das W-Lan im Zimmer nicht funktioniert.

Vier neue Lokale

Fünf Jahre lang hat man das Parlamentsgebäude am Ring in Wien generalsaniert. Am Donnerstag wird es mit einem Festakt feierlich eröffnet, am Montag darauf folgt die kulinarische Öffnung des Hohen Hauses. Kelsen nennt sich das Gastro-Großprojekt auf mehr als 700 Quadratmetern Fläche und mit 300 Sitzplätzen.

Gleich vier verschiedene Lokale sperren hier auf: Das Café Agora im Eingangsbereich, dazu die Cantina, das Bistro und das Fine-Dining-Restaurant, allesamt im neu ausgebauten Dachgeschoss. Dort sind nun auch die vier Terrassen mit Blick über Wien zugänglich, die man in Zukunft auch kulinarisch bespielen will – abseits vom üblichen Raucherbereich.

Das Café Agora im Eingangsbereich.
Foto: Kevin Recher

Die Cantina ersetzt die althergebrachte Kantine – die jetzt als Ort für Ausschüsse dient. Für rund 100 Personen hat man im Selbstbedienungsbereich Platz. Von Montag bis Freitag werden Menüs mit und ohne Fleisch zwischen 12 und 15 Euro angeboten, dazu gibt es Salate, Suppen, Nachspeisen und die Speisen aus dem angrenzenden Restaurant. Holz dominiert im gesamten Dachgeschoss, funktionell ist die Parlamentskantine eingerichtet. Für Chichi ist kein Platz, ein paar Pflanzen hätten aber sicher nicht geschadet. Praktisch muss ja nicht gleich trist bedeuteten.

SB-Bereich in der Cantina.
Foto: Kevin Recher
Ausblick von einer der Terrassen.
Foto: Kelsen/Marcel Drabits

Wiener Küche

Das Bistro ist zumindest das optische Highlight des Kelsen. Das ist aber auch nicht schwer: Anstatt sich in die langezogenen, etwas unpersönlichen Gänge der "großen" Lokale zu setzen, pflanzt man sich hier unter prächtige Luster in grüne Samtstühle. Klassiker der österreichischen Küche bietet man hier an, das war der große Wunsch des Parlaments. Käsespätzle gibt es um 9,50 Euro, ein Wiener Schnitzel vom Bio-Rind um 26 Euro. Als Snack zwischendurch finden sich Leberschmalzbrot vom Mangalitza-Schwein und Kaiserschinkensemmel auf der Karte, preislich bewegt man sich zwischen fünf bis 15 Euro. Frühstück wird im Bistro auch jeden Tag angeboten: Vom Wiener Frühstück über die vegane Alternative bis hin zu Eggs Benedict gibt es hier keine Überraschungen. Eine Melange dazu findet sich im oberen Schnitt bei 4,50 Euro, ein Weißer Spritzer ebenso.

Das Bistro.
Foto: Kevin Recher

Herzstück des Kelsen ist aber das Fine-Dining-Restaurant, das sich gespiegelt zur Kantine auf der anderen Seite des Dachgeschosses befindet. Über einen eigenen Lift gelangt man in den ebenso etwas trostlosen Lokalbereich. Mit dem Licht will man noch spielen, einladender als zu Mittag soll es dann sein. Etwas überholt wirkt das Interieur im gesamten Bereich aber schon, als würde man vor Corona aufsperren und nicht in einem modernen Lokal Anno 2023 sitzen.

Etwas trist: der Fine-Dining-Bereich des Kelsen.
Foto: Kevin Recher

Fine-Dining ab 58 Euro

Mittags gibt es Zwei- und Drei-Gänge-Menüs zwischen 19 und 28 Euro. Im Abendgeschäft fahren Küchendirektor Manfred Stockner und Fine-Dining-Chefkoch Paul Gamauf – früher unter anderem Sous-Chef im Tian – dann die schweren Geschütze auf. Bis zu sieben Gänge (um 98 Euro, vier Gänge um 58 Euro) umfassen die beiden Menüs, die entweder vegetarisch oder mit Fleisch angeboten werden. Da wird Zanderwangerl unter einer Decke fein-bitterem Chicorée versteckt, den man an eine Saiblingsleber und Erdnussmus gelegt hat.

Stosuppe mit Garnele.
Foto: Kevin Recher

Unaufdringlich und überraschend ist die Aromenvielfalt aus bitter und süß, die selten irgendwo besser geschmeckt hat. Mit der neuinterpretierten Version eines Reisfleisches zeigt die Küche auf, dass hier mit viel Finesse und feinem, aber ordentlichem Geschmack gekocht wird: Rosa gebratenes Schweinefleisch von Labonca legt sich auf ein delikates Reisbett im Sud.

Reisfleisch, neu interpretiert.
Foto: Kevin Recher

Gastro-Chef Thomas Hahn, der seit mehr als zehn Jahren das Restaurant Labstelle in der Wiener Innenstadt führt, will österreichische Küche neu denken. Auch deshalb werden geschlachtete Tiere im Ganzen eingekauft und verarbeitet. Abgerundet wird das Menü mit einem exzeptionellen Dessertprogramm des Chef-Patissiers Benjamin Schröder, der unter anderem eine süße Karfiolcreme oder schwarze Knoblauchpralinen auftischt. Aromawelten, die man gemeinhin nicht mit Nachtisch verbindet – allein dafür lohnt sich ein Besuch.

Die Desserts sind ein Highlight des Menüs.
Foto: Kevin Recher

Neue Arbeitsmodelle

Dass das Kelsen kulinarisch überzeugt, ist per se keine große Überraschung. Hier sind Leute aus dem Tian oder der Labstelle in Küche, als Sommelier oder Restaurantleiter absolute Profis am Werk. Viel mehr verblüfft, dass das Gastro-Projekt in Zeiten von Personalmangel knapp 80 Personen anstellen konnte – 40 in der Küche und 40 im Service. Das liegt laut Geschäftsführern am flexiblen Arbeitsmodell: Es wird auf die Wünsche und Bedürfnisse der Angestellten so gut es geht eingegangen. Will jemand nur im Tagesgeschäft arbeiten, dann mache man das möglich. Dienstags immer frei? Man sucht eine Lösung. Sonn- und Feiertags hat man sowieso frei, da nämlich hat das Parlament geschlossen. Mit einer eigenen Akademie will man den Mitarbeitenden Schulungen und Fortbildungen ermöglichen. Ob sich dieser so optimal klingende New-Way-of-Work auch in die Realität der knallharten Gastro-Branche umsetzen lässt, wird sich weisen.

Blick in die Küche.
Foto: Kevin Recher

Offen für alle Besucher

Eine der großen Herausforderungen bei der Neugestaltung des gastronomischen Konzepts: Die Kantine und Lokale sollen eben nicht nur den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Hohen Hauses offenstehen, sondern wirklich allen Besuchern und Besucherinnen, sagt Alexis Wintoniak, stellvertretender Parlamentsdirektor.

Deshalb ist auch der Zutritt zu den Lokalen ein wenig komplizierter: Über den Haupteingang des Parlaments bekommt man nur nach Vorzeigen eines Ausweises und einer Sicherheitskontrolle Zugang. Den Check-in erleichtern und beschleunigen soll eine Online-Voranmeldung, über die man einen QR-Code samt Zustrittsbestätigung erhält. Eine Vorort-Registrierung für einen spontanen Besuch im Kelsen sei aber natürlich ebenfalls möglich, sagt Christine Friedreich, Geschäftsführerin des Kelsen.

Das mag zwar eine kleine Hemmschwelle darstellen, aber dafür bekommen die Besucher nicht nur gutes Essen, sondern auch eine wirklich ungewöhnliche Location. (Kevin Recher, 10.1.2023)