Es ist die Ironie des Schicksals, dass der größte Erfolg der liberalen Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg, nämlich die Geburt der wirtschaftlich blühenden und politisch stabilen Bundesrepublik, eine der größten potenziellen Gefahren für das Überleben des demokratischen ukrainischen Staates bedeuten könnte.

Im Gegensatz zu den russischen Soldaten im Dienst des von Präsident Wladimir Putin befohlenen Aggressionskrieges wissen die Ukrainer, wofür und warum sie kämpfen. Das ist die Erklärung für ihre überraschenden Erfolge auf dem Schlachtfeld. Die Zukunft der unabhängigen Ukraine hängt aber auch von der militärischen und finanziellen Unterstützung des Westens ab.

Ukrainer wissen, wofür und warum sie kämpfen.
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In dieser Hinsicht erweist sich Deutschland, die wirtschaftlich stärkste Macht der EU mit einer Schlüsselrolle im europäischen Teil der Nato (des nordatlantischen Bündnisses), von Anfang an als ein unsicherer Kantonist.

Im Gegensatz zu Großbritannien und Polen, welche der Leitartikler der Neuen Zürcher Zeitung sogar als "Europas Führungsmächte" bezeichnet, zögert Bundeskanzler Olaf Scholz, der sozialdemokratische Regierungschef des pazifistischen und abgerüsteten deutschen Staates, bei der Lieferung deutscher Kampfpanzer an die Ukraine. Die von der NZZ als "träge und rückwärtsgewandt" kritisierten deutschen Sozialdemokraten nehmen wohl Rücksicht auf die Erinnerung an das Verbrechen Hitler-Deutschlands und die Debatten um die angebliche Gefahr deutscher Hegemonie im westlichen Bündnis. Von all dem und von der Eskalationsgefahr kann, auch angesichts der mörderischen Raketenangriffe gegen die ukrainische Bevölkerung, keine Rede mehr sein.

Politische Stimmenfänger

Jedenfalls behindert die Scholz-Regierung, trotz der eindeutigen Hilfsbereitschaft der Grünen und der FDP für die Ukraine, noch immer die einheitliche Positionierung gegen Russland. In einer sieben Seiten langen Titelgeschichte entlarvt Der Spiegel am Samstag, "wie schlimm es um die Bundeswehr wirklich steht".

Wie lange werden die westlichen Regierungen auch in diesem Jahr den monatlich auf drei bis vier Milliarden Dollar geschätzten Finanzbedarf der Ukraine decken, und was sagen die von der Inflation betroffenen Wähler zur Finanzierung der bereits im November auf 750 Milliarden Dollar geschätzten Kosten des Wiederaufbaus? Die politischen Stimmenfänger schlagen Kapital aus den Ängsten, die der Zustrom der Fremden auslöst. Bisher zählt man rund 14 Millionen Vertriebene durch den russischen Angriff in der Ukraine, von denen sieben Millionen im Ausland Zuflucht fanden.

Vor dem zusätzlichen Hintergrund des bisher unkontrollierbaren Migrantenstroms aus Asien und Afrika darf man die scharfe Grenze zwischen den erbaulichen Banalitäten der politischen Rhetorik und den Lebenswirklichkeiten der Menschen, damit auch die Grenzen der Belastbarkeit der Demokratie nicht übersehen.

Nächsten Sonntag wird der sechzigste Jahrestag des von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle geschlossenen, bahnbrechenden deutsch-französischen Freundschaftsvertrags gefeiert. Vom Zustand und Entwicklung der Beziehungen zwischen Berlin und Paris hängen die Zukunft des freien Europas und auch das Schicksal der Ukraine ab. (Paul Lendvai, 16.1.2023)