Die Gemeinschaft der Nuklearforschung ist gespalten. Eigentlich gilt das Kernforschungszentrum Cern als völkerverbindende Institution, wo Forschende aus allen Teilen der Welt die Naturwissenschaft als gemeinsamen Boden finden, der alle weltanschaulichen und kulturellen Gräben überbrücken kann. Am Cern betont man diesen Aspekt gern, wenn es um eine Rechtfertigung für die Milliardeninvestitionen geht.

Besonders als Brücke zwischen Ost und West hatte sich Cern etabliert. Russland ist zwar formal kein Mitglied, doch stammen acht Prozent der Belegschaft aus Russland. Bei 12.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sind das fast 1.000 Personen. Dieser Schmelztiegel der Kulturen kann sich dem Ukraine-Krieg nun nicht länger entziehen und erlebt eine in der 70-jährigen Geschichte des Forschungszentrums beispiellose Situation.

Im März 2022 drängten Teile der ukrainischen Cern-Belegschaft darauf, Russland von der Zusammenarbeit auszuschließen. Andernfalls würde "jedes Verbrechen und jedes Unrecht, das von ihrer Regierung und ihren Streitkräften begangen wird, legitimiert", sagte damals ein an Cern-Experimenten beteiligter Physiker aus Kiew dem Wissenschaftsjournal "Science". Im Juni letzten Jahres führte das zur Einstellung aller offiziellen Kooperationen des Cern mit Russland. Die "friedensstiftende" Mission dieser Zusammenarbeit lasse sich nicht mehr erfüllen, hieß es dazu vom Cern.

Keine Co-Autorschaft mit russischen Forschenden

Doch es gab weitere Konsequenzen. Der britische "Guardian" zitiert Quellen aus dem Cern, dass manche Forschende in Publikationen nicht als Co-Autoren russischer Wissenschafterinnen und Wissenschafter auftreten wollten. Kompromissversuche seien gescheitert. Seither gibt es keine wissenschaftlichen Publikationen mehr vom Cern. Das ist insofern außergewöhnlich, als große Forschungsinstitutionen wie das Kernforschungszentrum bei Genf, das mit dem LHC den größten Teilchenbeschleuniger der Welt betreibt, normalerweise am laufenden Band publizieren.

Der CMS-Detektor ist einer von vier großen Detektoren entlang des 27 Kilometer langen Beschleunigerrings des LHC.
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Und natürlich haben die Forschungen am Cern nicht aufgehört: 70 wissenschaftliche Arbeiten haben sich inzwischen angesammelt, die alle auf ihre Publikation warten. Doch eine Lösung ist nicht in Sicht. Der Leiter des Atlas-Experiments, eines der beiden großen Detektoren, mit denen die Entdeckung des Higgs-Teilchens gelang, erklärt, die Maßnahme sei nicht gegen die russischen Forschenden gerichtet, sondern es gehe nur um "die Form der institutionellen Anerkennung angesichts der Aussagen hochrangiger Vertreter russischer akademischer Einrichtungen", konkret um die Verbindung hochdotierter russischer Fördergeber zur russischen Regierung.

Dabei sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse im Prinzip zugänglich: Sie wurden auf Preprint-Server hochgeladen. Das sind Portale, bei denen Publikationen vor ihrer Begutachtung durch Fachjournale offen zugänglich gemacht werden können, ein wichtiges Instrument des immer schneller getakteten Wissenschaftsbetriebs. Ungewöhnlich ist diesmal, dass die Namen der Autorinnen und Autoren fehlen, ebenso wie die Institutionen, an denen sie angestellt sind. Diese Liste nimmt normalerweise innerhalb der Publikationen mehrere Seiten ein. Das Wissen ist allerdings verfügbar, und darum geht es in der Wissenschaft in erster Linie.

Doch ganz so einfach ist es dann doch nicht. Für junge Forschende sind Publikationen ein Faktor, der über ihre weitere Karriere entscheidet. Fördergeber beobachten die Publikationspraxis junger Doktoratsstudierender, die als wichtiges Maß für wissenschaftlichen Erfolg gilt. Die Messung der "Performance" durch wissenschaftliche Publikationen und Zitierungen dieser Arbeiten in den Veröffentlichungen anderer Forschender steht seit längerem in der Kritik, ist aber aufgrund fehlender Alternativen nach wie vor gelebte Praxis im Wissenschaftsbetrieb.

Das Fehlen der Namen in den Publikationen könnte für junge Forschende zum Problem werden, warnt Brajesh Choudhary, der im Team des CMS-Detektors forscht.
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Gefahr fehlender Fördergelder

Noch seien keine Auswirkungen durch entgangene Fördergelder für die jungen Cern-Forschenden bekannt, doch das könne sich in wenigen Monaten ändern, warnt Brajesh Choudhary von der Univesität Delhi, Mitglied der CMS-Kollaboration am Cern. Er macht darauf aufmerksam, dass nicht nur das Fehlen der Namen der Wissenschafterinnen und Wissenschafter ein Problem ist, sondern auch die Nichtnennung der Fördergeber.

Cern-Veteran John Ellis würdigt, dass sich viele russische Cern-Forschende gegen den Krieg gestellt hätten. Ihr Job sei nur durch internationale Forschungsabkommen gesichert. "Wenn diese zusammenbrechen, gibt es für sie keine rechtliche Grundlage, um in der Schweiz zu arbeiten", warnt Ellis.

Es ist nicht die einzige Komplikation, mit der das Cern seit dem Einfall russischer Truppen in die Ukraine zu kämpfen hat. Durch die hohen Energiepreise musste der Betrieb vorzeitig unterbrochen und die diesjährige Wartungsphase vorgezogen werden.

Unterdessen bemüht man sich, die Tür zur Zusammenarbeit mit russischen Forschenden nicht ganz zu schließen. Die nun gesetzten Maßnahmen seien im Sinn einer friedlichen wissenschaftlichen Zusammenarbeit getroffen worden, betont man beim Cern. "Die Entscheidung lässt die Tür für eine friedliche wissenschaftliche Zusammenarbeit offen, sollten die Umstände dies in Zukunft erlauben." Jüngste Nachrichten aus Russland lassen eine Normalisierung eher unwahrscheinlich erscheinen. (Reinhard Kleindl, 20.1.2023)