Unter dem transparenten Latex-Gewand sind sie alle gleich orange-lachsfarbig: die Bewohner von Maria Blut. Unter ihnen Mitzi Reindl (Stefanie Dvorak), eine glühende Nationalsozialistin.

Foto: Susanne Hassler-Smith

Im kleinen Ort Maria Blut liegen neuerdings überall Hakenkreuzarmbinden herum. Die 1930er-Jahre sind soeben angebrochen, die Arbeitslosigkeit steigt. Aus dem Radio tönen Reklamesprüche für neue Geldanlageideen: "Verzweifeln auch Sie an Inflation und Geldnot? Das muss nicht sein. Jetzt kommt die Raumkraft". – Es ist für Regisseurin Lucia Bihler gar nicht so schwierig, die fragile und unberechenbare Stimmung am gesellschaftspolitischen Wendepunkt in Maria Lazars Roman "Die Eingeborenen von Maria Blut" für die Gegenwart nutzbar zu machen. Die Premiere am Freitag im Akademietheater wurde mit kräftigem Applaus quittiert.

Vieles in dem 1935 im dänischen Exil fertiggestellten Roman erinnert an heute: das raue Gesprächsklima, die politischen Zuspitzungen, die unsichere Wirtschaftslage und die daraus wachsenden Ängste und leidenschaftlichen Anfeindungen innerhalb der Bevölkerung. Da hat auch eine Schutzmantelmadonna alle Hände voll zu tun, der Bevölkerung Halt und Hoffnung zu geben. Riesig und erhaben thront sie in der Mitte der Bühne und lässt sich von zwei wohlgesinnten Engeln den mächtigen blauen Umhang weit in die Luft ausbreiten (Bühne: Jessica Rockstroh). Unter diesem Schutzmantel verkriechen sich die Verzweifelten. Der Spruch lautet: "In dem schönen Ort Maria Blut/ werden alle Schmerzen wieder gut,/ bringst der Gottesmutter nur aus Wachs die Hand/ und dann brauchst kein Medizin und kein Verband".

Letzte Chance: Hakenkreuzler

Im Zentrum stehen drei Familien, an deren jeweiligem Unglück sich die Zerrissenheit der Zeit ablesen lässt: Der Wirt Heberger (Robert Reinagl) steht nach Fehlinvestitionen vor dem Bankrott, Tochter Notburga (Lili Winderlich) wird panisch-religiös, und Sohn Vinzenz (Jonas Hackmann) sieht in den Hakenkreuzlern seine einzige Chance. Der bekennende Sozialdemokrat Doktor Lohmann (Philipp Hauß) wiederum verzweifelt und verroht unter den heraufdämmernden Zeiten der Missgunst, seinem Sohn kann er keinen Ausweg aus dem Machtkreis der Nazi bieten. Er flüchtet immer wieder zu seiner Freundin nach Wien, während er seiner Haushälterin (Stefanie Dvorak) beiläufig die Adresse einer Abtreibungsklinik in die Hand drückt.

Lohmanns einziger Freund ist der jüdische Anwalt Meyer-Löw (Dorothee Hartinger), der – wir sind im vielsprachigen Burgtheater – daheim Jiddisch spricht und dessen Familie die wachsende antisemitische Front der örtlichen Bevölkerung zu Leibe rückt. Zum deutlich reduzierten Figurenpanorama von Lucia Bihlers und Alexander Kerlins Bühnenfassung gehören weiters Pater Lambert, den Robert Reinagl brabbelnd in abgeklärter Gläubigkeit zeigt. Und die elegant-aggressive Nazi-Frau Reindl (Dvorak), die schließlich mit dienstfertigem Jungvolk einen Brandanschlag auf die marode Fabrik in jüdischem Besitz unternimmt.

Puppenhafte Bevölkerung

Wie schon in ihrer ersten Burgtheaterarbeit, in der Bihler Thomas Bernhards "Jagdgesellschaft" in ein horrorhaftes Knautschlacktableau bannte, so erzählt die Regisseurin die Geschichte auch diesmal entlang einer bildstarken Ausstattung. Einer sozialromantischen Realität enthoben, agieren die Figuren hier puppenhaft in transparenter, akkurat geschneiderter Latexkleidung, unter der die orange-rosa "Grundwäsche" der Bevölkerung durchschimmert (Kostüm: Victoria Behr). Als solche, zusammengerottet zu tuschelnden oder lauthals diffamierenden Gruppen, tragen sie übergroße Kopfmasken auf den Schultern – fahle, traurige Gesichter mit wässrigen Augen, die einen wahrlich anrühren (Masken: Mats Süthoff).

Über formalisierte Gesten hinausgehend muss hier kaum etwas ausgespielt werden; der sinnliche und durchwegs bannende Abend entsteht vielmehr aus seiner eklatanten skulpturalen Optik sowie einer exquisiten Soundgebung (Jacob Suske), in der Sakralgesänge mit pochendem Elektrobeat, Straßenlärm mit Getuschel oder Volksmusik mit Hundegebell ineinander übergehen und Stimmung geben. Überaus aggressives Blendlicht (muss das so hell sein?) markiert die wechselnden Szenen.

Fern jeder Miefigkeit

Das puppenhafte Spiel bringt zwangsläufig eine gewisse Schablonenhaftigkeit mit sich, die Inszenierung bleibt aber dank eines beeindruckend agierenden Ensembles und nicht zuletzt einer spannenden Lichtführung lebendig genug. Das ist heute die Herausforderung: Ausdrucksmöglichkeiten suchen – mögen sie auch mechanischer, abstrahierender Art sein – und dabei dennoch der Schauspielkunst Raum geben. Auf diesem Grat und fern jeder Miefigkeit erhält hier ein weitsichtiger und bis zu seiner Wiederentdeckung bzw. Publikation 2020 durch den DVB-Verlag völlig vergessene Text seine verdiente Auferstehung. (Margarete Affenzeller, 21.1.2023)