"Glotzt nicht so romantisch!": Bertolt Brecht krempelte die Theaterkunst um – weil er die schlechte Einrichtung der Welt nicht hinnehmen wollte.

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Das Schreiben der Wahrheit galt Bertolt Brecht als besondere Herausforderung. Die Wahrheit zu vertreten erfordere Mut, schrieb der exilierte Dramatiker 1934. Die Wahrheit werde, so wie die Mehrzahl der Menschen, unterdrückt. Wer sie ausspreche, bringe sich selbst in Gefahr. Dabei gebe es nichts Lustvolleres, als die Wahrheit zu ermitteln. Um ihr jedoch zu ihrem Recht zu verhelfen, bedürfe es keiner geringeren Anstrengung, als die ganze Welt zu verändern: weil die es nötig habe.

Der Augsburger Dichter Brecht (1898–1956) machte sich – auch um nicht im Mahlwerk Hitlers oder Stalins spurlos zu verschwinden – selbst zum Rätsel. Er bildete sich um. Als größter Dramatiker des 20. Jahrhunderts verlieh er seinen Zügen einen Höchstgrad an Wiedererkennbarkeit. Kultivierte den mönchischen Ausdruck des Antlitzes, behielt die unvermeidliche Zigarre fest im Griff. Dazu war er Marxist und Dialektiker: Allein dieser Umstand rechtfertigt es für viele, seinen Namen ins Schwarzbuch des Kommunismus hineinzureklamieren.

Für die Nachgeborenen verblasst mit Fortdauer Brechts Physiognomie, wird pastos und durchscheinend. Einige rekapitulieren, dass der Haifisch Zähne hat und dass er diese im Gesicht trägt. Allein die Wiedergabe des Inhalts der Dreigroschenoper würde viele Theaterabonnenten in ernstliche Schwierigkeiten versetzen. Andere sehen vielleicht Helene Weigel, Brechts Frau, den Planwagen der Mutter Courage über eine mitleiderregend kahle Bühne ziehen. Das "Epische Theater", Brechts originäre Schöpfung, scheint passé. Dabei sind seine Hauptmerkmale, der zeigende Gestus, das Brechen jedweder Illusion, das planmäßige Verfremden, in die Bühnenpraxis der Postdramatik eingegangen. Prädikat: höchst wirksam.

Aus Anlass von Brechts 125. Geburtstag scheint es an der Zeit, einige der produktivsten Vorschläge Brechts, dieser listigen Sphinx, die den Nazis entkam, um in der DDR ihrer Reifejahre nicht mehr recht froh zu werden, ins Gedächtnis zu rufen. Auskunft zu den Stichwörtern erteilt Erdmut Wizisla, seit 1993 Leiter des Bertolt-Brecht-Archivs in Berlin.

These eins: Erkenntnis ist mit Lust verbunden.

Wizisla (64), der unter anderem ein Standardwerk über die Freundschaft Brechts mit dem Philosophen Walter Benjamin geschrieben hat, stimmt sofort zu: "Brecht hat seine Probenarbeit in den 1950er-Jahren am Berliner Ensemble immer dann unterbrochen, wenn Schwierigkeiten auftauchten. Wenn es anstrengend wurde, wusste er, dass irgendetwas nicht stimmte."

Brecht, der Praktiker im blauen Drillich der Arbeiterklasse, besaß auch kindliche Züge. "Es gibt den Satz in den Herr Keuner-Geschichten: Schön ist es, Schwierigkeiten zu überwinden! Wenn Kinder, die noch durch keine Schule verbildet sind, Erkenntnisse gewinnen, empfinden sie zuerst einmal freudige Genugtuung. Ihrer bemächtigt sich Leichtigkeit, weil Erkenntnis ihnen bei der Bewältigung des Daseins hilft. Kindlichkeit ist in Brechts Denken strukturell verankert."

These zwei: Brechts Theater ist wissenschaftlich.

Wizisla: "Wir dürfen nicht vergessen, gegen welche Theatertradition Brecht sich gestellt hat. Das Epische Theater richtet sich gegen das Einfühlungstheater. Brecht nannte sich selbst einmal im US-Exil den 'Einstein des wissenschaftlichen Zeitalters'. Das meint die Stärkung des Denkens: Du sollst kein Opfer von Kulinarik werden, sondern mit Neugier auf das Geschehen blicken. Du sollst – womöglich zurückgelehnt rauchend, was heute nicht mehr opportun ist – genießen! Das richtet sich gegen alles Schwülstige, Pathetische, Deklamatorische."

These drei: Lust am Zweifel gehört in unserer Ja-Nein-Kultur gefördert.

Wizisla: "Die Kunst ist eine der letzten Bastionen, in denen man sich um Differenzierung bemühen kann und muss. Brecht wurde und wird oft unterstellt, Schwarz-Weiß-Schemata gefolgt zu sein. Lässt man sich jedoch auf seine Stücktexte ein, dann findet man eine unendlich kultivierte Fähigkeit zur Differenzierung."

These vier: Brecht beurteilte Kunst nach ihrem Gebrauchswert.

Wizisla: "Vielleicht denkt man darüber nach, was Brecht mit dem Gebrauchswert in Wirklichkeit gemeint hat, nämlich nicht die Indienstnahme von Kunst. Seine Kunst dient der Veränderung von Gesellschaft, aber doch nicht als Organon oder Werkzeug. Sie ist ein Raum, in dem Freiheit herrschen muss. Kunst ist kein reiner Selbstzweck, kein Elfenbeinturm, sondern eine Art Stoffwechsel, eine Möglichkeit, in der Welt zu sein. Sie ist eine Angelegenheit des Volkes, wie Franz Kafka gesagt hat. Sie ist nicht für Künstlerinnen und Künstler da, sondern für alle."

These fünf: Brecht besaß die Tugend der Freundlichkeit.

Wizisla: "Freundlichkeit ist für Bertolt Brecht etwas Essenzielles. Friede ist das A und O. Und Freundlichkeit. Sie wirkt im Sinne Keuners: Einverstanden-Sein heißt auch Nicht-einverstanden-Sein, Freundlichkeit schließt Widerspruch nicht aus. Brecht war für Theaterkrach zu haben. Doch sein Umgang enthielt immer Zuwendung, die eines scheuen Menschen, der dennoch seinen Wert kannte und Präsenz besaß. Er hatte auch taktisch viel zu bewältigen, mit Blick auf seine vielen Liebschaften."

Frage: Wie lesen Einsteiger am besten Brecht?

Wizisla zögert keinen Augenblick: "Mit Rücksicht auf das Gesamtwerk würde ich raten, zuerst die Svendborger Gedichte zu lesen. Dann die Buckower Elegien. Dann die Keuner-Geschichten. Und dann ist man für die Stücke gewappnet, den Kaukasischen Kreidekreis oder Der gute Mensch von Sezuan. Und dann, gleich nachher, muss Baal folgen." (Ronald Pohl, 10.2.2023)