Es war noch nie leicht, Premierminister in Paris zu sein: Das zeigt schon der Titel eines politischen Standardwerkes, "Die Hölle von Matignon". Matignon ist der Sitz des Regierungschefs, auch wenn dieser Titel etwas hochgegriffen klingt; das Regieren, oder zumindest das Dirigieren, obliegt in Frankreich dem Staatschef im Elysée-Palast. Der oder die Premier setzt nur den Willen des Präsidenten um.

Elisabeth Borne, seit letztem Mai Macrons "première ministre", hat es in der Machokultur der Pariser Politik doppelt schwer. Sie ist erst die zweite Frau im Hôtel Matignon nach Edith Cresson, die sich 1991 gerade mal elf Monate im Amt gehalten hatte – während denen sie als "Madame Pompadour" oder genauer "Mitterrands Mätresse" gedemütigt wurde.

Die unauffällige Technokratin Elisabeth Borne hat eine Bilderbuchkarriere vorzuweisen.
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Heute würden solche Sprüche auch in Paris nicht mehr durchgehen. Borne ist zudem mit ihrem trockenen, wenig flamboyanten Naturell eine schlechte Zielscheibe für hämische Männersprüche. Als unauffällige Technokratin hat die geschiedene Mutter eines Sohnes eine Bilderbuchkarriere vorzuweisen: Sie war Präfektin, Strategie-Direktorin der französischen Eisenbahn SNCF, Vorsteherin der Pariser Metro und Transportministerin. Im Fernsehen oder im Parlament hat es die Apothekerstochter, deren jüdisch-russischer Vater noch Bornstein hieß, aber heute schwer gegen eloquente Großmäuler wie Linkenchef Jean-Luc Mélenchon oder Gewerkschaftsboss Philippe Martinez.

Aus dem Schussfeld

Macron war dies wohl nur recht: Er wollte eine Frau in Matignon, aber keine allzu starke oder unabhängige – keine, die ihm ins Licht treten könnte. Das rächt sich in der aktuellen Rentendebatte, Macrons wichtigster Reform. Da sich der unpopuläre Staatschef bewusst aus dem Schussfeld hält, um das hart umkämpfte Vorhaben nicht zusätzlich zu gefährden, muss Borne an die Front. Und sie behauptet sich nur schwer gegen die Opposition von links und von rechts außen.

Die 61-jährige Regierungschefin wiederholt in der Nationalversammlung geflissentlich ihre Argumente: Selbst mit der geplanten Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 bliebe Frankreich noch weit hinter dem europäischen Durchschnitts-Rentenalter zurück. 64 Jahre sei das Minimum, denn auch so falle das Pensionsdefizit namentlich im öffentlichen Sektor noch gewaltig aus.

Borne stößt in Frankreich auf taube Ohren.
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Damit stößt Borne aber in Frankreich auf taube Ohren. Vergeblich verweist sie darauf, dass sie in der Reform auch die Netto-Mindestrente von 960 auf 1.200 Euro erhöht. Nichts hilft: Bei den mehreren Protesttagen seit Jahresbeginn gehen jeweils mehr als eine Million Reformgegner auf die Straße. Transparente mit der Inschrift "Borne-out" spielen auf den Burn-Out älterer Arbeitnehmer an – und zeigen der Premierministerin den Ausgang. Der Slogan "Borne to be dead" – etwa: Geboren, um zu sterben – resümiert das Argument der Gegner, ihr Lebensweg würde vom Job direkt ins Grab führen, wenn das Rentenalter angehoben würde.

Borne erträgt den Zorn der Straße stoisch. Tapfer, aber immer einsamer verteidigt die heimliche E-Zigaretten-Raucherin die Macron-Reform auch in der Nationalversammlung. Dort muss sich die erklärte Feministin sogar sagen lassen, die Reform benachteilige die Frauen. Dabei würden die Französinnen dank ihrer höheren Lebenserwartung (85 Jahre) sechs Jahre länger Pensionen beziehen als Franzosen (79 Jahre).

Der Zorn ist groß. Bei den mehreren Protesttagen seit Jahresbeginn gehen jeweils mehr als eine Million Reformgegner auf die Straße.
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Die Regierungschefin erweckt manchmal fast den Eindruck, sie stehe selbst nur widerwillig zur Reform. Borne ist zwar eine loyale Macronistin; aber sie verhehlt nicht, dass sie politisch links und der Parti Socialiste – dem französischen Pendant der SPD – nahesteht. So hatte sie auch schon für prominente Sozialisten wie Jack Lang oder Ségolène Royal gearbeitet.

Gegen die Überzeugungen

Die Parti Socialiste lehnt das Rentenprojekt kategorisch ab und wirft Borne vor, sie handle gegen ihre eigenen Überzeugungen. Die Angesprochene entgegnet, Frankreich komme nicht um die Reform herum, wenn es nicht vom wohlhabenden G7-Staat in die Armut absinken wolle. Das französische Gesundheitswesen pfeift in der Tat aus allen Löchern, und wie sich die Altersversicherung ohne Erhöhung des Rentenalters halten soll, vermöchte kein Ökonom zu sagen.

In der Defensive

Trotzdem bleibt Borne in der Defensive, während die Gewerkschaften bei jeder Protestdemonstration auftrumpfen und bereits vor den wohl entscheidenden Streiks und Demos im März von "Sieg" sprechen. Und wenn die Premierministerin neue Konzessionen macht, um wenigstens das Rentenalter 64 zu retten, wird ihr das von allen Seiten als weitere Schwäche ausgelegt. Wie auch immer der Titanenkampf um die französischen "retraites" (Pensionen) ausgehen wird, steht eines schon fest: Auch der aktuellen Regierungschefin in Paris bleibt die Hölle von Matignon derzeit nicht erspart. (brä, 13.2.2023)