Vom Onlinekauf bis in die erste Klasse – nicht nur in der digitalen Welt ist Privatsphäre zum Luxusgut geworden.

Bild: Midjourney

Videoanrufe, Textverarbeitung, E-Mails – man hat sich daran gewöhnt, dass Kommunikation im Internet kostenlos ist. Dass diese Dienste dennoch einen Preis haben und mit Werbung und persönlichen Daten finanziert werden, stört die wenigsten. In einem System, das die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff als "Überwachungskapitalismus" bezeichnet hat bezeichnet hat, sind Daten als Währung stillschweigend akzeptiert.

Bonusprogramme, bei denen Kunden ihre Kaufhistorie für ein paar Prämien verkaufen, sind seit Jahren etabliert, und auch die Hardware ist teils mit Daten subventioniert. So sagte Bill Baxter, Technikvorstand des Smart-TV-Herstellers Vizio, dass sein Unternehmen die Geräte nur deshalb so günstig anbieten könne, weil darin der Verkauf von Nutzerdaten eingepreist ist. Buy now, pay later – nur, dass die Zahlungsweise in Daten erfolgt.

2.000 Dollar jährlich für Privatsphäre

Natürlich sind Inhaber eines Smart-TVs oder einer Treuekarte nicht zwangsläufig arm. Durch die Kommodifizierung von Nutzerdaten aber wird die grundrechtlich verbriefte Privatsphäre immer mehr zu einem ökonomischen Faktor. Ein teures Apple-Gerät, das Tracking-Funktionen deaktiviert, muss man sich ebenso leisten können wie den analogen Kurzurlaub in einem Digital-Detox-Camp oder die Abschaffung des Autos, das den Fahrer lückenlos überwacht.

Sichere Hard- und Software, die verhindert, dass nicht unbefugte Dritte durch digitale Hintertüren eindringen, kosten Geld. Die Reporterin Julia Angwin rechnete 2014 in der "New York Times" vor, dass sie insgesamt 2.200 Dollar im Jahr für den Schutz ihrer Privatsphäre ausgeben musste. Ihr Fazit: "Privatsphäre ist zum Luxusgut geworden."

Aufpreis schützt vor Blicken

Das gilt längst auch über den Wolken. So locken Fluggesellschaften zahlungskräftige Klientel mit "mehr Privatsphäre" in der First Class, wo man eigene Schlafkabinen und Duschen hat und sich Sanitäranlagen nicht mehr mit dem Pöbel in der Holzklasse teilen muss.

Der durch Sichtwände getrennte Nachbar sieht nicht, welches Buch man liest oder welchen Film man schaut. "Jeder Moment gehört Ihnen, weil Schall- und Sichtschutz für kostbare Privatsphäre sorgen", wirbt die Lufthansa für ihre First Class.

In den höherpreisigen Komfortkategorien im Flugzeug sind Reisende besser vor neugierigen Blicken geschützt.
Foto: Finair via Reuters

Private Dinge wie essen und schlafen tut man heute in der Öffentlichkeit von Flugzeugen oder Zügen, und öffentliche Dinge wie das Kundtun von Meinungen tut man im privaten Raum. Die Grenzen dessen, was privat und öffentlich ist, sind also einem steten kulturellen Wandel unterworfen – und werden mit jeder Technologie neu verhandelt und justiert.

Recht auf Privatheit

Im alten Rom verrichtete man seine Notdurft in öffentlichen Latrinen, wo es zuweilen geselliger zuging als in modernen Saunen, Baden war bis zum Einbau der ersten Bäder in Wohnhäusern ab 1870 ein öffentlicher Akt, und bis ins Industriezeitalter war es üblich, dass das Dienstpersonal in den Villen großbürgerlicher Familien hauste.

Dass die Kammerzofen und Gouvernanten dabei private Gespräche mitbekamen, empfand niemand als Eingriff in seinen persönlichen Lebensbereich – es gab schließlich keine Möglichkeit, dies aufzuzeichnen. Das änderte sich mit der Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert.

Plötzlich gab es eine Technologie, mit der man Gesichter vervielfältigen und in bunten Blättern abdrucken konnte. Im Jahr 1890 postulierten die US-Rechtswissenschafter Samuel D. Warren und Louis D. Brandeis in einem Aufsatz in der Harvard Law Review erstmals ein Recht auf Privatheit, das sie als eine Art Eigentumsrecht an persönlichen Informationen konzeptualisierten. "Fotografische Momentaufnahmen und das Zeitungsgeschäft sind in die heilige Umgebung des privaten und häuslichen Lebens eingedrungen", klagen die Autoren. Durch "viele mechanische Geräte" drohe es Wirklichkeit zu werden, dass, "was auf der Toilette geflüstert wurde, vom Dachfirst aus proklamiert werden wird". Heute hat jeder eine Handykamera in der Tasche, mit der man Privates und Intimes in die Welt sendet.

Was darf man noch verbergen?

Der Internetpionier Vint Cerf argumentierte im Fahrwasser der Post-Privacy-Debatte, dass es sich bei Privatsphäre um eine "historische Anomalie" handeln könne. Privatheit sei ein Konstrukt des Industriezeitalters, erst die urbane Verdichtung hätte zu einem Gefühl von Anonymität geführt.

Cerf ignorierte freilich den Umstand, dass es einen Unterschied macht, ob eine Software im Hintergrund diskret das Shopping-Verhalten auswertet oder ein Aufseher im Supermarkt im Einkaufswagen herumschnüffelt. Das würde wohl jeder Kunde als übergriffig empfinden, und genau deshalb wurden auch die Träger der Datenbrille Google Glass vor einigen Jahren aus Bars in San Francisco geworfen. Wer will schon, dass wildfremde Leute in die Poren des eigenen Gesichts zoomen?

Möglicherweise wird man diese Frage aber bald schon anders beantworten, wenn neue Datenbrillen auf den Markt kommen. Soziale Normen ändern sich mit jeder Technologie. Die Explosion der Datenmenge durch internetfähige Objekte und Exponiertheit des Individuums in einer "Transparenzgesellschaft" (Byung-Chul Han) wird die Frage nach den Eigentumsrechten von persönlichen Daten ins Zentrum politischer Debatten rücken. Was darf man noch verbergen? Was muss man mit der Allgemeinheit teilen?

Bitte um Datenspenden

Auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie war es fast schon eine soziale Erwartung, Kontaktdaten mit staatlichen Warn-Apps zu teilen, um Infektionsketten nachverfolgen zu können (Stichwort "Datenspende"). Vielleicht gilt es in der nächsten Pandemie schon als asozial, wenn man die Gesundheitsdaten seiner Smartwatch nicht mit der öffentlichen Cloud teilt. Und vielleicht wird dereinst der genetische Code zum Open-Source-Code, den jeder editieren kann – wie einen Wikipedia-Artikel. Doch in dem Maße, wie Teilen zur sozialen Norm und Daten zum öffentlichen Gut werden, wird das Opting-out – sprich: die Privatisierung dessen, was ursprünglich mal anonym war – luxuriöser.

Rechtsinstitute wie die ärztliche Schweigepflicht werden in der Transparenzgesellschaft zwar formal noch existieren, faktisch aber nur für einen exklusiven Personenkreis, der noch von einem Arzt aus Fleisch und Blut und keinem Pflegeroboter therapiert wird.

Der Luxus von morgen wird darin bestehen, sich der Datensolidarität entziehen zu können und Daten nicht mit privaten Konzernen oder dem Staat teilen zu müssen. Wer es sich leisten kann, speichert sensible Daten in der eigenen Cloud und ersetzt digitale Diener durch menschliche Haushaltshilfen. Die lassen sich im Gegensatz zu Robotern für ihre Diskretion bezahlen.

Nicht Luxus, sondern Standard

In nicht allzu ferner Zukunft könnte es auch Anbieter für zahlungspflichtige Adblocker geben, die Reklame in der Augmented-Reality-Brille ausblenden. Wo die Reichen das werbefreie Großstadtleben im Privatsphäremodus genießen, werden die Nutzer im Basistarif per Gesichtserkennung "erweitert" und mit personalisierten Anzeigen bombardiert.

Vielleicht kommt es aber doch ganz anders, und man wird in einer Postwachstumsgesellschaft neben Freizeit und Energie auch Daten im Überfluss haben: synthetische Daten, die von Computern generiert werden und die Ausbeutung von echten Nutzerdaten überflüssig machen. Privatsphäre wäre dann kein Luxus mehr, sondern Standard. (Adrian Lobe, 28.2.2023)