In den Ötztaler Alpen in Tirol liegt ein Schatz. Er erstreckt sich, durchzogen von mäandernden Gletscherbächen, zwischen schroffem Gestein auf einer Seehöhe von 2.300 Metern. Die Rede ist vom Platzertal, dem größten unerschlossenen Moor der österreichischen Hochalpen. Geht es nach der Naturschutzorganisation WWF, so ist diese "Schatzkammer der Artenvielfalt" unbedingt zu bewahren. Mooren komme schließlich im Kampf gegen die Klima- und Diversitätskrise eine essenzielle Rolle zu. Eine neue von der Organisation in Auftrag gegebene Studie weist 192 Hektar hochalpine Moore und Feuchtgebiete in 33 Hochtälern aus, von denen 158 Hektar noch nie systematisch erfasst wurden.

Studie identifiziert fast 160 Hektar bisher nicht dokumentierter Moore

"Eigentlich erfreulich", kommentiert der Moorexperte Harald Zechmeister von der Universität Wien die Ergebnisse im Rahmen einer Online-Pressekonferenz des WWF am Mittwoch. Dabei schwingt ein lautes Aber mit. Zechmeister schaut besorgt in die Kamera. "In Österreich werden nach wie vor Genehmigungen für die Zerstörung einzigartiger Moore erteilt", kritisiert der Wissenschafter. Vor allem durch Wasserkraft- und Tourismusprojekte gingen immer mehr intakte Moorflächen verloren.

Die Naturschutzorganisation fordert einen absoluten Schutz alpiner Moorgebiete durch die Bundesländer. Doch in Tirol wird die Fläche für die Energiewende gebraucht, heißt es vonseiten des Landes.
Foto: Sebastian Frölich/WWF

Ein Paradebeispiel dafür: das Platzertal. Denn das Hochtal ist nicht nur ein ökologischer Schatz, sondern auch für das Land Tirol und den landeseigenen Energieversorger Tiwag von höchstem Wert. Es geht um den umstrittenen Ausbau des in den 1960er-Jahren errichteten Kraftwerks Kaunertal zum Pumpspeicherkraftwerk. Dazu soll im Platzertal ein Stausee mit einem 120 Meter hohen Damm errichtet werden. 120 Meter– das ist in etwa so hoch wie der Stephansdom in Wien. Rund neun Fußballfelder an Moorflächen würden geflutet.

Gezerre um den Kraftwerksausbau währt seit 2009

Seit 2009 bemüht sich die Tiwag um einen Ausbau. Bereits im Jahre 2012 wurde besagte Erweiterung zur Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) eingereicht. Doch aufgrund eines Streits mit der Gemeinde Sölden über benötigte Wasserableitungen aus der Gurgler und Venter Ache wurde das Verfahren auf Eis gelegt.

Im November des vergangenen Jahres folgte ein Meilenstein für den Energieversorger: Das Widerstreitverfahren wurde nach über zehn Jahren schließlich höchstgerichtlich zugunsten der Tiwag entschieden. Wichtige Weichen für den Kraftwerkausbau waren endlich gestellt. Und nicht nur das, auch die politischen Entwicklungen spielten der Tiwag in die Hände. Seit Oktober zieht nämlich die frischgewählte und der dem Ausbau der Wasserkraft durchaus zugeneigte Koalition aus ÖVP und SPÖ die landespolitischen Fäden in Tirol. Die Grünen, Ex-Regierungspartner der ÖVP, die dem Ausbau durchaus skeptisch gegenüberstanden, wechselten auf die Oppositionsbank.

Tirols Landeshauptmann Anton Mattle (ÖVP) bekennt sich zu einem "massiven Ausbau erneuerbarer Energieträger". Die Wasserkraft sieht er als "wesentliche Säule".
Foto: Johann Groder/APA

Nun wird die Tiwag Ende Februar das umstrittene Projekt also wieder vollumfänglich zur Umweltprüfung einreichen, bestätigt ein Sprecher des Konzerns dem STANDARD einen entsprechenden Bericht der Tiroler Tageszeitung.

Die Tiroler Landesregierung bekennt sich jedenfalls zu "einem massiven Ausbau erneuerbarer Energieträger mit Wasserkraft und Photovoltaik als wesentliche Säulen", heißt es auf Anfrage des STANDARD aus dem Büro des Landeshauptmanns und Tiwag-Eigentümervertreters Anton Mattle (ÖVP). "Mit innovativen Ansätzen und ohne Denkverbote, unter Nutzung aller technologischen Möglichkeiten, aber immer mit dem Blick auf die räumlichen und landschaftlichen Gegebenheiten" wolle Tirol "raus aus der internationalen Abhängigkeit".

Zur Unterstützung der Energiewende sowie zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit sei es "zwingend notwendig, ausreichend Speicherkapazitäten zur Netzstabilisierung bereitzustellen sowie Dunkelflauten zum saisonalen Ausgleich zu überwinden". Dazu brauche man Pumpspeicherkraftwerke, so die politisch Verantwortlichen. Zusätzliche Optionen seien aber zu evaluieren, insbesondere für die saisonale Energiespeicherung.

Bei der Energiewende falsch abgebogen

Das sieht naturgemäß nicht jeder so. Umweltorganisationen hatten sich vehement gegen das Projekt ausgesprochen. 40 Vereine und Wissenschafter hatten als "Umweltallianz" im Mai die "Kaunertal-Erklärung" unterschrieben, in der sie den sofortigen Ausbaustopp forderten. Im August hatte sich die Alpenschutzkommission Cipra International, der über 100 Organisationen aus dem Alpenraum angehören, der Kritik angeschlossen.

Im Zuge der am Mittwoch präsentierten Moorstudie – der offenbar ersten systematischen Fernerkundung von Mooren und Feuchtgebieten im österreichischen Alpenraum – zeigte sich, dass nur ein Drittel der rund 200 Hektar Moorflächen weitgehend unberührt und nur knapp die Hälfte der Gebiete aktuell geschützt ist. Schon jetzt seien 90 Prozent der ursprünglichen Moore in Österreich zerstört, nur ein Prozent gelte noch als unberührt. Von den unberührten Moorfläche sei nur knapp die Hälfte der Gebiete aktuell. "Die Zerstörung jeglicher weiterer Flächen ist daher völlig inakzeptabel und kann auch durch Ersatzmaßnahmen nicht kompensiert werden", betont Zechmeister.

Eine Zerstörung von Moorflächen kann laut Wissenschafterinnen und Wissenschaftern nicht kompensiert werden.
Foto: Sebastian Frölich/WWF

Sicherheitsbedenken und Naturgefahren spalten die Gemüter

Auch die WWF-Gewässerschutzexpertin Bettina Urbanek wiederholt ihre Forderung nach einem sofortigen Stopp des Kraftwerkausbaus. Vor allem die Ötztaler Alpen seien gemäß der Studie "ein einzigartiger Hotspot für alpine Moore – mit dem Platzertal und seiner über 20 Hektar umfassenden Feuchtgebietslandschaft als Spitzenreiter". Sie könne schlicht nicht verstehen, weshalb das Land Tirol und die Tiwag auch in Zeiten der Klima- und Biodiversitätskrise noch immer an diesem Projekt festhalten.

Zudem seien in den vergangenen Wochen "brisante neue Details zu Sicherheitsbedenken und Naturgefahren" bekannt geworden, betont Urbanek. Die Rede war etwa von Hangrutschen. "Das Kraftwerk ist sicher", unterstreicht der Tiwag-Projektleiter gegenüber der "Tiroler Tageszeitung". Landeshauptmann Mattle pocht auf Nachfrage des STANDARD auf Transparenz und ein "ordentlich abzuarbeitendes Genehmigungsverfahren". Zudem solle die Tiwag dem Kaunertaler Gemeinderat alle Informationen und Gutachten zum Kraftwerk schon vorab vorlegen.

Hochtäler wie das Platzertal sind in der letzten Eiszeit entstanden und wurden danach über 10.000 Jahre lang von Gletschern und Bächen geformt. Die über tausende Jahre abgelagerten Sedimente bilden Grund und Boden für seltene Pflanzen. Ein intaktes Moor stellt außerdem eine Kohlenstoffsenke dar – es wird also mehr Kohlenstoff aufgenommen, als abgegeben wird. Der Speicherteich im Platzertal würde laut der Initiative "lebenswertes kaunertal" geschützte Lebensräume in der Größenordnung von rund 14 Fußballfeldern zerstören. Damit stehe das Vorhaben nach Ansicht des Landesumweltanwaltes in Widerspruch zu den im Bodenschutzprotokoll der Alpenkonvention festgelegten Moorschutz-Bestimmungen. (Maria Retter, 15.2.2023)