Die Bundesländer bieten schon jetzt unterschiedliche Unterstützungsangebote für Jugendliche an – einen Rechtsanspruch für über 18-Jährige gibt es aber noch nicht.

Foto: max-kegfire

In Österreich kommt es nicht oft vor, dass Eltern ihre Kinder mit 18 Jahren vor die Tür setzen. Ganz im Gegenteil: Die meisten Kinder werden laut Eurostat 25 Jahre, ehe sie aus ihrem Elternhaus ausziehen. Die Männer lassen sich mit durchschnittlich 26 länger Zeit als Frauen mit 24 Jahren. Bei manchen mag da die Bequemlichkeit eine Rolle spielen, nicht auf gebügelte Wäsche oder den gefüllten Kühlschrank verzichten zu wollen. Das Gros scheitert jedoch an finanziellen Hürden: Sie können sich einen frühen Auszug schlicht nicht leisten.

Leisten hätte sich das auch die Wienerin Tina R. mit 18 Jahren nicht können. "Ich hatte damals den Hauptschulabschluss und arbeitete 30 Stunden im Kindergarten." Fünf Jahre zuvor war sie in ein SOS-Kinderdorf gekommen, wegen Problemen in der Familie, wie die mittlerweile 27-Jährige erzählt. Nach drei Jahren Wohngemeinschaft mit acht Jugendlichen zog sie mit 16 in eine eigene Wohnung im Rahmen des betreuten Wohnens – die Miete und die Lebenshaltungskosten wurden übernommen. Mit 18 war dann Schluss.

Rund 13.000 Kinder in Fremdunterbringung

Es sind Jugendliche wie einst Tina, die kein familiäres Auffangnetz haben und trotzdem früh erwachsen werden müssen. Und es gibt viele von ihnen: 13.000 Kinder werden in Österreich von der stationären Jugendhilfe betreut. In Wien sind es 4.000, die nicht in der Obhut ihrer leiblichen Eltern aufwachsen. Ihr Zuhause sind Einrichtungen oder Wohnungen unterschiedlichster Träger im Rahmen der Jugendhilfe. Doch dieses Zuhause müssen sie an ihrem 18. Geburtstag verlassen. In vielen Fällen endet hier die Hilfe.

Was das für die Jugendlichen und ihre Betreuung bedeutet, erzählt Martina Wiener, die die Anlaufstelle von SOS-Kinderdorf im fünften Wiener Bezirk leitet. DER STANDARD hat sie und Tina R. sowie Bianca G., eine weitere "Care-Leaverin", im Vorfeld des internationalen Care-Day am Freitag, der die Situation der fremduntergebrachten Jugendlichen in den Fokus rücken will, besucht. "Schon die Jahre zuvor stehen wir alle sehr unter Druck", sagt Wiener, die einst die Frauen betreute. Erst müssten die Jugendlichen mit 16 Jahren schleunigst in Richtung Selbstständigkeit gebracht werden. "Vor dem 18. Geburtstag kreist dann alles um die Frage, ob die Unterstützung verlängert wird", sagt Wiener.

Tina R. und Bianca G. mit ihrer damaligen Betreuerin Martina Wiener in der Anlaufstelle von SOS-Kinderdorf.
Foto: Elisa Tomaselli

Ausbildung ermöglicht Verlängerung

Möglich ist das unter bestimmten Voraussetzungen: Bei Jugendlichen, die noch eine Lehre oder die Matura – also eine Ausbildung – absolvieren, kann die Betreuung bis maximal 21 verlängert werden. Tina hatte keine Chance. Den Hauptschulabschluss hatte sie gerade nachgeholt, ihre Ausbildung zur Kindergartenassistenz erst später begonnen. "Darum war es ein Sprung ins kalte Wasser", sagt die junge Frau. Während Tina plötzlich allein zurechtkommen musste, wurde Bianca G.s Ansuchen um Verlängerung genehmigt – dank ihrer Lehrstelle als Einzelhandelskauffrau in einer Bäckerei, die aber "die Hölle" war, wie die 25-Jährige sagt. "Ich wollte so oft kündigen. Doch meine Betreuer waren dahinter, dass ich es durchziehe." Rückblickend ist sie froh. Sie wäre sonst um die Unterstützung umgefallen.

Dies seien Situationen, die in einer "normalen Familie" kaum vorkämen: "Jeder Vater, jede Mutter würde im Falle von Bianca sagen: Such dir etwas anderes. Wir unterstützen dich dabei", sagt die Sozialpädagogin Wiener. Noch ärgerlicher sei aber der Umstand, dass jene Jugendlichen ohne Ausbildung sofort in die Selbstständigkeit entlassen würden. "Wir wissen allerdings genau, dass gerade die Kinder, die nicht in Ausbildung sind, Unterstützung benötigen würden", sagt auch Jugendanwältin Dunja Gharwal im STANDARD-Gespräch.

Wien mit Beratungsstunden

Verbesserungen wurden hier tatsächlich schon auf den Weg gebracht: Im Dezember hatte Wiens Jugendstadtrat Christoph Wiederkehr (Neos) sogenannte Beratungsgutscheine für Care-Leaver vorgestellt. Ähnliches gibt es schon in Vorarlberg und Salzburg. In Summe 45 Stunden können sich Jugendliche bis 24 ab heuer nicht nur in Krisen, sondern auch bei Fragen rund um Mietverträge, Versicherungen oder Jobs beraten lassen. Diese Beratungen können bei den Trägern wie SOS-Kinderdorf oder der Volkshilfe eingelöst werden. Damit sollen diese Jugendlichen "die gleichen Chancen erhalten, wie andere junge Erwachsene auch", heißt es dazu aus dem Büro des Stadtrats.

Doch kann wirklich von gleichen Chancen die Rede sein? Die Beratungsstunden seien ein guter Schritt, aber das Problem würden sie nicht lösen, sagt die Volkshilfe-Geschäftsführerin Tanja Wehsely zum STANDARD. "Wir gehen davon aus, dass mindestens 15 bis 20 Prozent mehr Jugendliche eine Verlängerung der Betreuung im Rahmen der Jugendhilfe bräuchten." Dass ihnen diese nicht gewährt und von ihnen mehr verlangt wird als von Kindern mit familiärem Netzwerk und besseren Ausgangsbedingungen, sei ein "Wahnsinn".

Rechtsanspruch bis zum 24. Lebensjahr

Daher plädiert die Plattform Jugendhilfe 18+, zu der zwölf bundesweit tätige Organisationen gehören, darunter SOS-Kinderdorf und die Volkshilfe, für das Recht auf Unterstützung über die Volljährigkeit hinaus. Einen Rechtsanspruch gibt es dafür bislang nicht. Gefordert wird, dass die Altersgrenze von 18 auf das vollendete 24. Lebensjahr angehoben wird. So lange sollten junge Erwachsene die Hilfen aus der Kinder- und Jugendhilfe erhalten, wenn es nach den Organisationen geht. Eine "Bittstellung" vonseiten der jungen Erwachsenen dürfe es nicht mehr geben, heißt es in einem Positionspapier.

Im Leben von Bianca und Tina hat sich seit dem Auszug jedenfalls einiges verändert: "Für mich steht derzeit die Karriere im Vordergrund," sagt Bianca. In der Bäckerei ist sie nicht geblieben. Ihr nächstes Ziel sei nun die Studienberechtigungsprüfung für das Sozialpädagogikstudium. "Ja, lass dir ruhig Zeit mit den Kindern", sagt Tina und lacht. Mittlerweile ist sie zweifache Mama. Klar wäre vieles einfacher gewesen, wenn sie länger Unterstützung bekommen hätte, sagt die 28-Jährige. Letztlich habe ihr die Geburt des ersten Sohnes geholfen, selbstständig zu werden. "Ich wollte ja nicht, dass es meinem Sohn einmal so geht wie mir." (Elisa Tomaselli, 17.2.2023)