Ärzte und Psychologen haben das Nachsehen, wenn sie privaten Einladungen folgen. Sitzt ein Orthopäde am Tisch, erzählen alle von ihren Knieproblemen. Psychiater werden um Expertise zu beruhigenden Medikamenten gebeten ("Ich frage für einen Freund!"). Eine noch stärkere Leuchtkraft besitzen nur Beziehungsberater: Gibt sich so jemand auf einer Party oder bei einem Abendessen zu erkennen, könnte dieser Mann oder diese Frau in der Sekunde einen mehrstündigen Ted-Talk abhalten. Jeder von uns fühlt sich betroffen. Oder war es zumindest einmal. Diesen komplizierten Paarlauf würde man sich gerne mal von neutraler Stelle erklären lassen.

Trennung in Würde

Viele Paare kommen zu spät zur Beratung.
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Letzten Samstag war ich auf einer Geburtstagsparty und hatte das Glück, an der Bar auf eine Uraltfreundin zu treffen. Sie arbeitet seit vielen Jahren als Paartherapeutin. "Hand aufs Herz", frage ich sie. "Wie würdest du deine Erfahrungen zusammenfassen?" Sie denkt kurz nach und antwortet: "Viele kommen zu spät. Viele haben sich im Laufe der Jahre in verschiedene Richtungen entwickelt. Mittlerweile weiß ich, dass sich rund siebzig Prozent meiner Klienten trennen." – "Oh", sage ich. Sie erklärt, dass das nichts Schlechtes sei. Weil es viel schlimmer sei, in einer Pattstellung zu verharren. Auf einen lebendigen Alltag zu verzichten. "Es zeugt von menschlicher Reife, wenn man darauf bedacht ist, eine Trennung für beide Seiten würdig zu gestalten. Sich bei diesem Prozess begleiten zu lassen kann hilfreich sein."

Beziehungsarbeit

Und was sind die häufigsten Missverständnisse in ihrer Praxis? "Viele kommen und wollen eigentlich nur die Bestätigung ihres eigenen Erlebens. Also dass ich dem anderen erkläre, wie psychisch gestört er ist. Wie narzisstisch er oder sie sich verhält." Das sei mittlerweile schon ein Klassiker. Viele glauben auch: Jetzt zahlen wir, dass wir hier arbeiten und alles reparieren. Aber das Wort Beziehungsarbeit finde sie bedenklich. Das klinge nach Businesscoaching. "Wenn man es Arbeit nennt und nicht gerne macht, dann hat es vielleicht nichts mehr mit Liebe zu tun."

Schrei nach Leben

Zu Hause lese ich nach bei Esther Perel: "Menschen möchten in ihren Beziehungen Lebendigkeit spüren, Freiheit und Neugier", schreibt die berühmte Liebesexpertin. Nicht alles müsse "bis ans Lebensende" gelten. Und dann wiederholt die belgische Psychotherapeutin mit Praxis in New York den entscheidenden Satz eines Klienten: "Es ist nicht so, dass ich meinen Partner verlassen wollte. Ich wollte die Person verlassen, die ich selbst geworden bin." (RONDO, Ela Angerer, 26.2.2023)