Geschulter Blick: Der Lyriker und Dichtungstheoretiker Franz Josef Czernin "kooperierte" bereits in den späten 1980er-Jahren mit einem Programm namens POE.

Foto: Heribert Corn

Als "Mix aus Software und Hexerei" beschrieb die New York Times den selbstlernenden Sprachautomaten ChatGPT. Als Lernmodell könnte die künstliche Intelligenz irgendwann das Selbstbild des schöpferischen Menschen irritieren: durch eigene "Dichtung". Der Lyriker Franz Josef Czernin arbeitete bereits vor 30 Jahren gemeinsam mit Ferdinand Schmatz unter Hinzuziehung eines Computers (Teller und Schweiß, 1990).

STANDARD: Sie haben beim Gedichteschreiben auf das Programm POE zurückgegriffen. Eine gute Idee?

Czernin: Gedacht war es als Hilfe. Interessiert hat uns ausdrücklich nicht, dass die Maschine selbst Werke herstellt. Für Schmatz und mich hat sich mit der Zeit herausgestellt, dass POE nicht sehr hilfreich war. Meine Erkenntnis lautet: Der Prozess, etwas Poesiewürdiges zu verfassen, enthält derart viele Faktoren, dass beim Verfertigen damals eher eine Art Hemmung eintrat.

STANDARD: Wie darf man sich das Arbeiten mit einem solchen Vorläufermodell von ChatGPT vorstellen?

Czernin: Man konnte zum Programm zum Beispiel sagen: "Suche ein Substantiv, das mehr als zwei Silben hat und in dem die Vokale ,a‘ und ,o‘ vorkommen." Die grammatikalischen Kategorien musste man selbst in die Datenbank eintragen. Das alles kostete sehr viel Mühe. Oder: "Finde alle Reime auf das Wort soundso!" Klangähnlichkeiten, Reime, solche Dinge. Das war viel zu oberflächlich, auch in Hinblick auf die Frage, was geschieht, wenn man versucht, etwas hervorzubringen.

STANDARD: Was geschieht denn?

Czernin: Die Prozesse sind vielfältig. Man muss die eigenen Vorstellungen mit dem, was man sucht, abgleichen. POE gab es Ende der 1980er-Jahre. Schon in den 1960ern mixte der deutsche Sprachkonstruktivist Max Bense allerlei Sachen zusammen. Er unterhielt eine Datenbank, und unter Ausnützung von Wahrscheinlichkeiten wurde dann ein Text hergestellt, der zum Beispiel Kafka ähnelte. Solche statistischen Fragen haben Schmatz und mich eher weniger interessiert. Alles, was uns damals beschäftigte, ist gegen das, was heute möglich ist, fast nichts. Die Frage, die mich jetzt interessiert, lautet: Was könnte passieren, wenn solche Programme plötzlich Dinge hervorbringen, die literarisch-ästhetisch wertvoll sind?

STANDARD: Hat Zufall in der Kunst nicht von jeher Platz gehabt? In der Kunst der Avantgarde bestand lange Zeit die Forderung, es müsse etwas Überraschendes, Neues passieren.

Czernin: Unvorhergesehenes passiert einem bei der künstlerischen Arbeit unausgesetzt. Wenn man etwas hervorbringen will, reagiert man auf etwas, was man im Voraus nicht bedacht hat. Ich meine das in Betreff des künstlerischen Mediums, der Sprache. Damit wird die Sache mysteriös. Es ist das Medium selbst, das an den schöpferischen Menschen Anforderungen stellt.

STANDARD: Sie meinen die Spielregeln eines Textes?

Czernin: Du wirst von solchen Regeln auf Wege gebracht, von denen du nichts geahnt hast. Wenn ich einen bestimmten Gedanken oder Vorstellungsinhalt realisieren will, kann ich etwas nicht so machen, wie ich es ursprünglich vorgehabt hatte. Warum? Weil das Medium mir in die Suppe spuckt. Plötzlich kommt etwas Peinliches heraus, oder etwas Bizarres. Wenn ChatGPT etwas ist, von dem der Programmierer auch nicht weiß, was herauskommt, so gibt er einen Rahmen vor, und innerhalb dessen kann etwas Unvorhergesehenes passieren. Wenn eine unheimlich reiche Datenmenge in ein solches Programm eingespeist wird, dann könnte etwas ästhetisch Wertvolles dabei herauskommen.

STANDARD: Kunst passiert?

Czernin: Ob es eine solche ist, müsste man ganz den Rezipierenden überlassen. Oder auch der Erfahrung, die man mit Texten macht. Dann könnte es heißen: Es ist herzlich egal, worin das Kreative besteht! Um ein Programm als kreativ zu bezeichnen, müsste man voraussetzen, es verfüge über Absichten und mentale Zustände. Das wäre metaphysisch und mysteriös zugleich. Wenn ich als Rezipient mit anderen übereinkäme: Dieser Text ist großartig, angesichts der Weltlage oder so, dann sähe ich darin kein Problem, auf den ersten Blick. Doch auf den zweiten kommt es mir erst recht wieder komisch vor.

STANDARD: Derweil funktioniert ChatGPT vor allem als Dienstleister. Weckt das nicht Befürchtungen vonseiten der Künstler? Die Künste müssen dauernd Anliegen vertreten oder sich nach etwaigen Auftraggebern richten.

Czernin: Ich sage dem Programm zum Beispiel: Schreibe etwas über den Ukraine-Krieg! Da habe ich bewährte, einfache Muster vorliegen, und auf diesen aufbauend könnte im Handumdrehen ein beliebiger Durchschnittsroman entstehen. Man könnte das sehr gut warenförmig produzieren. Der Autor oder Redakteur bräuchte nurmehr letzte Hand an ein solches Machwerk anlegen. Dann könnte zum Beispiel jemand etwas über die EU schreiben ...

STANDARD: Das soll schon vorgekommen sein.

Czernin: Man hätte nicht mehr so viel Arbeit. Was für jeden Autor eine erfreuliche Perspektive wäre.

STANDARD: Hat sich die im weitesten Sinn literarische Kunst dem Dienstleistungsmarkt ohnehin so stark angepasst, dass sie der künstlichen Intelligenz kaum noch bedarf?

Czernin: Das ist eine pessimistische Haltung, für die sehr viel spricht. Ich bringe sie nur einfach nicht zustande. Ich würde sofort die Hände in den Schoß legen und nichts mehr machen wollen. Ich glaube – oder meine – zu fühlen, dass das ästhetische Feld doch seine eigene relative Autonomie besitzt. Ich kann Dinge erkennen oder begreifen, die ich auf keine andere Art begreifen kann. Literatur, Geisteswissenschaften, Kritik: Sie alle leisten im besten Falle etwas, das keine Naturwissenschaft darzustellen vermag. (Ronald Pohl, 23.2.2023)