Tamara Rojo mit dem English National Ballet in "Giselle".

Laurent Liotardo

Wie hängen Klassenkämpfe und Migrationsbewegungen zusammen? Warum setzt der Brite Akram Khan in seiner Neuinterpretation des Ballettklassikers Giselle, die am Freitag und Samstag im Festspielhaus St. Pölten zu sehen ist, seiner Mutter ein Denkmal? Und wieso kam ihm Giselle in den Sinn?

Das sei gar nicht seine Idee gewesen, sagt Khan dem STANDARD: "Innerhalb eines Monats fragten mich vier Institutionen unabhängig voneinander, ob ich die ‚Giselle‘ machen will." Als er sich entschieden hatte, wollten die britischen Medien "immer wieder wissen, warum ich gefragt wurde". Bis ihm der Geduldsfaden riss "und ich ihnen sagte, dieses ständige Nachhaken wird schon fast rassistisch – so als ob sie meinten: Warum wurde eine Brown Person gefragt, die keine Verbindung zu ‚Giselle‘ hat."

Das war vor der Uraufführung 2016 in Manchester. Ein Jahr später hat die Südafrikanerin Dada Masilo ihre Version der Giselle vorgestellt. Frühere wichtige Reinterpretationen stammen etwa von Frederic Franklin (Creole Giselle), Marcia Haydée oder John Neumeier. Khan ist rund zehn Jahre älter als Masilo und gehört wie diese zu den Publikumsmagneten im Gegenwartstanz.

Seine Karriere hat der in eine Londoner Familie aus Bangladesch Geborene schon als Kind begonnen. Mit 13 reiste er als Darsteller in Peter Brooks’ Mabharata um die Welt, bevor er eine Tanzausbildung begann und ab den 1990ern eigene Stücke entwickelte. Viele seiner Choreografien – von Vertical Road über Desh bis Outwitting the Devil – zeichnen sich durch ihre gelungene Verbindung von modernem Tanz und dem nordindischen Stil Kathak aus.

Olympiade 2012

Zum Erfolgsrezept des heute 48-Jährigen gehören Kooperationen etwa mit Kylie Minogue, Anish Kapoor oder der Starballerina Sylvie Guillem. 2012 hat Khan die Eröffnung der Olympischen Spiele in London mitchoreografiert. Eine erste Arbeit für das English National Ballet, Dust, hat den Choreografen fürs Ballett angespitzt. Dies sowie die spirituellen Elemente und der Inhalt von Giselle reizten Khan zur Bearbeitung des Megaklassikers.

Schon im romantischen Original fallen zwei bis heute politische Aspekte auf: die Fatalität von Klassenunterschieden und die Ausbeutung von Frauen. Es war das Jahr 1841, als der 23-jährige Marx gerade romantische Wilde Lieder wie Nachtliebe publizierte: "Presst sie krampfhaft ans Herz, / Schaut so dunkel ins Auge: / ,Viellieb, brennt Dich Schmerz, / Bebst, bebst meinem Hauche!‘" Ach, als wäre Karl ein reicher Albrecht gewesen, der darunter leidet, dass er die arme Giselle in den Tod getrieben hat.

Zur politischen Dimension der Liebe kam die Fluchtbewegung 2015, als Khan sein Stück konzipierte. "Die Art, wie England darauf reagierte, hat mich wirklich verletzt", sagt er. "Weil ich des Glaubens war, ich wäre auch britisch, und wir wären gastfreundliche Weltbürger." Aber zwischen der Willkommen verheißenden Olympiade 2012 und dem Brexit-Referendum 2016 habe sich etwas verändert.

Fabrikseinsturz in Bangladesh

Von da her rollt Khan seine Geschichte auf: "Migranten, die aus vorwiegend vom Westen geschaffenen Kriegen kommen, wollen dort leben, woher sie stammen. Aber weil wir es für sie vermasselt haben, müssen sie weg." Die Leute um seine Giselle sind "Näher, die in Fabriken arbeiten – ich habe das mit der Rana-Plaza-Tragödie verbunden". Im Jahr 2013 stürzte in Bangladesch eine Fabrik ein, es gab mehr als 1100 Tote. "Die Leute in dieser Fabrik haben für Geschäfte gearbeitet, in denen ich meine Kleidung kaufe. Sie hatten weder Sicherheit noch ordentliche Bezahlung."

Die Luftgeister "Wilis" in Giselle sind bei Khan daher "Frauen, die in solchen Fabriken gearbeitet haben, und aus den klassischen Gutsherren werden bei mir Fabriksbesitzer". Anders als die Protagonistin im Original ist Akram Khans Giselle keine naive Seele, sondern eine emanzipierte Frau, denn: "Ich bin umgeben von sehr kraftvollen Frauen. Meiner Mutter, eine Feministin, meiner Ehefrau und meiner Dramaturgin Ruth Little. Ich wollte mich der Giselle nähern, als ob sie wie meine Mutter wäre: äußerst gebildet, stolz und selbstbewusst."

Das Kunstexperiment ist das Zusammentreffen von Kathak-Tanz und Ballett: "Die Sprache ist unterschiedlich, aber Intention und Wertesystem sind gleich. Das Klassische ist für mich die Absicht, Perfektion zu erreichen – im Bewusstsein, dass du sie nicht erreichen kannst, aber du willst es trotzdem versuchen. Und das Zeitgenössische definiert sich im Aufzeigen des nicht Perfekten." Seit der Arbeit an Giselle, so Khan, ist das Ballett "untrennbar" mit seinem Werk verbunden. (Helmut Ploebst, 22.2.2023)