Judith Muster: "Es ist bequemer, die Ursache für fehlerhaftes Handeln bei den beteiligten Personen zu suchen statt in der Organisationsstruktur."

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Es ist eine große Sehnsucht: Unternehmen und Organisationen sollen "menschlicher" werden. Die solcherart Angesprochenen reagieren in ihren Werbebotschaften an neue Mitarbeiter auch längst darauf und verkünden gerne: "Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt."

Das klingt fantastisch. Offenbar wird es – wahrscheinlich aufgrund gegenteiliger Erfahrungen und Erlebnisse, die auch fleißig auf Social Media und Bewertungsportalen geteilt werden – nicht wirklich geglaubt. Irgendetwas stimmt da wohl nicht. Aber: Wie können Unternehmen und Organisationen wirklich menschengerechter werden?

Instinktiv möchte man darauf antworten: indem das ureigenst Menschliche – die Emotionen, die Fehler, die Unberechenbarkeit – endlich anerkannt und integriert wird. Und die Persönlichkeit nicht mehr unten am Empfang abgegeben werden muss, damit sie bloß die funktionale Rolle in der Firma nicht stört.

Nicht auf meine Schultern

Das Buch Die Humanisierung der Organisation gibt die gegenteilige Antwort: Organisationen werden dann den Menschen gerechter, wenn sie den Großteil ihres Wesens ignorieren, bewusst ausklammern. Was zunächst völlig paradox klingt, wird nicht nur schlüssig erklärt, sondern erscheint als eigentlicher Schutz vor der totalen Vereinnahmung, vor der totalen Ausbeutung. Als Schutz vor einer Last auf den Schultern der Werktätigen, die ihnen gar nicht gehört. Mit Personalverantwortlichen geht dieses Buch hart ins Gericht.

Probleme personalisieren, statt in der Struktur der Organisation etwas zu verändern – das hat Beraterin Judith Muster schon oft gesehen.
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Kai Matthiesen, Peter Laudenbach und Judith Muster haben tatsächlich eine klare Botschaft: "Je weniger ein Unternehmen seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als ganzen Menschen adressiert, desto besser für die Mitarbeiter – als Menschen wie auch als Mitarbeiter." Das Anliegen: Sie wollen Menschen vom Schrott der Dysfunktionalität ihrer Organisationen befreien. "Organisationen nutzen viele Wege, um ihre Probleme zulasten der Mitarbeiter zu personalisieren", sagt Judith Muster, Beraterin bei Metaplan in Berlin.

Immer sind es dann die einzelnen Mitarbeitenden, die Firmenprobleme mit persönlichem Engagement lösen sollen. Geht das nicht, dann wird das falsche Mindset bekrittelt, dann geht’s ab in den nächsten Motivations-Workshop. Es werde, so Muster, schlicht die Verantwortung verschoben. Sie bezeichnet dies als "Spiele", in denen das Verhalten Einzelner entweder glorifiziert oder therapeutisch problematisiert werde. Die Absicht dabei: eine Struktur der Organisation zu erhalten, die nicht verändert werden muss, in der sich strukturell nichts bewegen muss – weil ja eh die einzelnen Menschen nicht richtig funktionieren oder nicht gut, im Sinne von jeweils entsprechend, ticken.

Machtpolitik im Job

Organisationsgeschädigte werden sich bei der Lektüre freuen: Statt Menschen als Urquell allen Übels in der Firma zu identifizieren und immer wieder zu bearbeiten, plädieren die Autoren für den Blick auf die Organisation und ihre (Beharrungs-)Struktur. Das ist für Chefs wie für Untergebene erhellend in Sachen Machtpolitik und auch erlösend – frustriert sind sie oftmals beide. "Management-Methoden, die darauf abzielen, die Barrieren zwischen Mensch und Organisation einzureißen, sind nichts anderes als Anleitungen zur Übergriffigkeit", sagt Judith Muster. Es müsse fein säuberlich unterschieden werden zwischen Mensch und Mitglied der Organisation in der jeweiligen Rolle. Schließlich müssten Organisationsmitglieder ja auch austauschbar sein. Eben deswegen, so Muster, sind Unternehmen keine Familien – das sei eine der großen Illusionen, von der es Abschied zu nehmen gelte.

Professionelle Emotionen

Dort, wo Emotionen in Organisationen gefragt seien – etwa im Kreativbereich, in Agenturen, im gutgelaunten Verkaufsgespräch –, seien diese eine in der Rolle eingeforderte Authentizität der Selbstdarstellung. Also professioneller Bluff, grob ausgedrückt. Oder netter formuliert: eine funktionsgerechte menschliche Selbstdarstellung, eine Dienstleistung, für die letztlich bezahlt wird.

Das Buch leiht sich durchgängig den Blick und die Erkenntnisse des großen Soziologen Niklas Luhmann und referenziert auch auf ihn, etwa zum Thema Schuldzuweisung an Einzelne statt Hinsehen auf den organisationalen Kontext: Organisationen entlasten sich durch Verantwortungsverschiebung auf Mitarbeitende, schützen sich so vor Veränderung und Machtverschiebung.

Drei gefährliche Praktiken

Judith Muster beschreibt im Gespräch Unternehmen, die "den ganzen Menschen" vereinnahmen, letztlich als "übergriffige Organisationen". Es gebe drei grundsätzliche Muster, wie das üblicherweise vonstattengeht, berichtet sie aus ihrer Beratungspraxis:

  • Psychologisierung: Organisationen glauben, sie könnten persönliche Eigenschaften ihrer Mitglieder an die Bedürfnisse der Organisation anpassen. Da sparen die Autoren auch nicht mit Kritik am Konzept der transformationalen Führung, nicht mit Kritik an Coachings oder therapeutischen Ansätzen, die Unternehmen ihren Mitarbeitern angedeihen lassen.
  • Moralisierung: Es wird obligatorisch, den Beruf mit der Berufung zu verwechseln. Das "Passion Principle", die Verleidenschaftlichung der aufgetragenen Arbeit, oftmals sogar die Kathedralisierung der Firma, findet hier seine Auswüchse.
  • Überdehnung formaler Pflichten: Organisationsmitglieder müssen Aufgaben bewältigen, ohne dass ihnen die dafür notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt werden. Wer ist dann gescheitert oder zumindest ungenügend? Genau – wieder Einzelne, unpassend sind nicht die Strukturen der Organisation. (Karin Bauer, 28.2.2023)