Über Polarisierung zwischen gesellschaftlichen Lagern wird viel mehr gesprochen, als es sie tatsächlich gibt, sagt der Ungleichheitsforscher Steffen Mau: "Es geht kein Riss durch die Gesellschaft, aber wir haben stattdessen eine Radikalisierung der Ränder."

Foto: Humboldt-Universität zu Berlin / M. Heyde

Kaum ein Begriff wird gegenwärtig im öffentlichen Diskurs – politisch wie medial – so oft zur Gesellschaftsbeschreibung verwendet wie "Spaltung", nicht nur in Österreich. Aber sind unsere Gesellschaften wirklich "gespalten"? Driften sie tatsächlich auseinander? Der Soziologe Steffen Mau hat die weitverbreitete Diagnose der gesellschaftlichen Polarisierung untersucht und den Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Einstellungen zu gesellschaftlichen Ungleichheiten in Deutschland, Frankreich, Italien, Ungarn, Schweden und Polen analysiert.

STANDARD: Leben wir nun in gespaltenen Gesellschaften oder doch nicht? Wo verlaufen denn wirkliche Gräben? Zwischen oben und unten? Stadt und Land? Links und rechts? Jung und Alt? Oder den digitalen Anywheres und den traditionellen Somewheres?

Mau: Eine pauschale Spaltung gibt es nicht. Der Diskurs der Polarisierung bezieht sich auf eine Lagerbildung in der Gesellschaft. Aber wir sehen keine Aufspaltung in zwei gut voneinander zu unterscheidende Lager, auch keinen trennenden Graben zwischen unterschiedlichen Bevölkerungssegmenten. Die meisten Leute befinden sich bei den wichtigen politischen Fragen irgendwo in der Mitte. Das heißt: Es geht kein Riss durch Gesellschaft, aber wir haben stattdessen eine Radikalisierung der Ränder. Da findet die größte gesellschaftspolitische Auseinandersetzung statt.

STANDARD: Gilt dieser Befund für alle sechs Länder in Ihrer Studie?

Mau: Wir haben einzelne Gesellschaften in Europa, die stärker gespalten sind als andere. Italien und Polen etwa sind stärker gespalten als Deutschland oder Schweden.

STANDARD: Woran zeigt sich das?

Mau: In Polen geht es mit den Auseinandersetzungen um das Abtreibungsrecht, das Justizsystem und die öffentlichen Medien nicht nur darum, dass man innerhalb eines politischen Systems mit einem politischen Mitbewerber konkurriert, sondern dass eine Partei versucht, das politische System grundsätzlich so umzubauen, dass sie dadurch dauerhafte Vorteile erlangen kann. In Italien wiederum ist die Migrationsfrage ein Spaltungsthema, und wir haben mit dem Nord-Süd-Gefälle eine Konfliktdimension, die wir so etwa in Deutschland nicht finden.

STANDARD: Warum ist das so?

Mau: Generell hat sich die affektive Polarisierung zwischen den politischen Parteien tendenziell verringert – mit Ausnahme der AfD. So waren etwa die Antipathien zwischen CDU/CSU und den Grünen vor 20, 30 Jahren viel, viel größer. Selbst in sehr kontrovers diskutierten Fragen wie Migration oder ökonomische Ungleichheit hat sich gar nicht so viel getan. Aber wir reden mehr über Polarisierung. Das sieht man auch in den Medien, wo dieser Diskurs seit 20 Jahren enorm an Fahrt aufgenommen hat. Man diskutiert permanent darüber, dass es Polarisierungen gibt, aber es gibt da eine gewisse Entkoppelung von medialem Diskurs und den realen Entwicklungen, die diese Polarisierung so gar nicht zeigen.

STANDARD: Welche Erklärung haben Sie für diese Entkoppelung?

Mau: Wenn ich von Polarisierung spreche, meine ich ein Auseinanderdriften von Bevölkerungssegmenten, zwischen denen ein immer größerer Graben klafft. Wenn die Medien darüber schreiben, meinen sie meistens so etwas wie öffentliche Auseinandersetzung oder Dispute. Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Letzten Endes gehört das Austragen von Meinungsverschiedenheiten ja zur Demokratie dazu. Nur unter bestimmten Voraussetzungen würden wir von Polarisierung sprechen, nämlich dann, wenn es wirklich ein Gegeneinander großer gesellschaftlicher Lager gibt, die immer weniger zueinander finden können – und das sieht man nicht.

STANDARD: Sie sprechen aber von "Polarisierungsunternehmern". Dazu zählen Sie auch Medien – explizit nennen Sie Talkshows, Leitartikel und Twitter – sowie Kulturschaffende.

Mau: Wir haben im politischen Raum durchaus eine größere Kontroverse in dem Sinne, dass Polarisierungsunternehmer versuchen, aus bestimmten Spannungen und auch Gegensätzen politisches Kapital zu gewinnen. Das lässt sich besonders stark beobachten, wenn es um ungesättigte politische Konflikte geht, also politische Konflikte, die noch nicht institutionell befriedet sind. Polarisierungsunternehmer nutzen solche noch offenen Situationen zur Lagerbildung, indem sie behaupten: "Es gibt uns und die anderen – und es gibt eine grundlegende Gegnerschaft zwischen diesen beiden Gruppen." Und das relativ unabhängig davon, ob es wirklich so ist.

Es muss über Abgrenzung immer eine eigene Gruppenidentität aufgebaut werden, nur so können Polarisierungsunternehmer überhaupt etwas in Bewegung setzen. Letztlich wird man bei jeder scharfen öffentlichen Auseinandersetzung aufgefordert, Partei zu ergreifen. Dann hat man das Gefühl, hier teilt sich das Wahlvolk in eine Pro- und eine Kontraposition. Häufig sind das relativ kleine sachliche Differenzen, aber wenn man sie emotional hochkocht und affektiv auflädt, erscheinen sie als große, zum Teil unüberbrückbare Differenzen. Das ist das tägliche Geschäft von Polarisierungsunternehmern.

STANDARD: Welche Beispiele für gesättigte und aktuell noch ungesättigte politische Konflikte gibt es noch?

Mau: Im Bereich der ökonomischen Ungleichheit haben wir eine institutionelle Form gefunden, nämlich den Sozialstaat als institutionalisierten Klassenkompromiss. Für die Migration hingegen haben wir noch keine stabile Regelung. Wie wollen wir damit umgehen? Wie viele Menschen sollen kommen? Diese Fragen kommen immer wieder hoch. Darum hat sich auf dieser Achse auch eine Grundspannung zwischen Migrationsbefürwortern und Gegnern oder Skeptikern angesiedelt. Aber der Hauptkonflikt verläuft nicht zwischen den Polen "offene Grenzen" und "abgeschotteter Nationalstaat".

Die größte Gruppe vertritt die mittlere Position, sie sagt, es braucht ein Management von Migration, sie muss reguliert und gestaltet werden. Ein anderer nicht gesättigter Konflikt betrifft Fragen gesellschaftlicher Diversität im Hinblick auf sexuelle Identität wie die Debatte über Transpersonen und welche Form sexuelle Selbstbestimmung annehmen soll. Und natürlich die Klimafrage, für die wir noch keine befriedigende Formel haben.

STANDARD: Sie bekommt durch die "Klimakleber" gerade viel, auch konflikthafte Aufmerksamkeit, die auch oft in den Polarisierungsdiskurs eingespeist wird. Da die klimabewussten Aktivistinnen und Aktivisten, dort die vermeintlich klima-ignoranten Menschen, die im umweltschädlichen Auto zur Arbeit wollen und blockiert werden. Ist die Gemengelage so simpel?

Mau: Wenn man öffentliche Diskurse über den Klimakonflikt beobachtet, könnte man denken, der Konflikt bestünde zwischen denen, die sagen, es gibt eine Klimakrise, und jenen, die sagen, der Klimawandel finde gar nicht statt. Das ist aber nicht der gesellschaftliche Grundkonflikt, in dem wir uns befinden. Die Zahl der Klimawandelleugner liegt im einstelligen Bereich, in Deutschland je nach Studie vier bis sechs Prozent.

Eigentlich dreht sich der Klimakonflikt um Fragen der Bewältigung des menschengemachten Klimawandels. Da gibt es Gruppen, denen geht alles viel zu schnell, die haben auch Veränderungsängste. Anderen geht es nicht schnell genug, weil die Zeit drängt. Es geht beim Klimakonflikt auch um die Geschwindigkeit und Tiefe des gesellschaftlichen Wandels. Das ist die zentrale Konfliktstruktur. Im Grunde ist die Klimafrage die größte Verteilungsfrage, vor der wir stehen.

STANDARD: Inwiefern?

Mau: Weil natürlich auch in der Klimafrage Fragen der Verteilung von Kosten und Lasten und möglicherweise auch Gewinnen aus der sozialökologischen Transformation mitverhandelt werden. Es ist nicht so, dass die unteren und bildungsferneren Schichten oder die Klasse der Arbeiter diesen notwendigen Wandel in Zweifel ziehen, sondern sie haben andere Vorstellungen davon, welche wirtschaftlichen und sozialen Nachteile sie dadurch haben könnten – und darum ist, diese Risiken vor Augen, das ökologische Bewusstsein der Arbeiterklasse ein völlig anderes als das der urbanen Akademikerklasse. Diese pflegt einen nachhaltigen Lebensstil und kann sich diesen auch leisten, während die unteren Schichten doch zunächst auch einmal die soziale Frage beantwortet haben möchten.

STANDARD: Bleibt die Frage: Was machen wir mit den Polen oder radikalisierten Rändern der Gesellschaft?

Mau: Natürlich muss man versuchen, die einfachen Rezepte, die die Polarisierungsunternehmer immer anbieten, zu entlarven. Vor allem muss man sehen, dass es in der Breite der Bevölkerung immer noch andere Anknüpfungspunkte gibt. Die wenigsten Leute beschäftigt nur ein Thema. Wenn Migration in der politischen Debatte so prominent gesetzt und damit auch als die zentrale Achse des Konflikts dargestellt wird, gehen viele andere Themen unter. Deswegen sage ich: Es muss verhindert werden, dass wir so einen monothematischen politischen Raum haben, der andere Interessen kaum noch zur Geltung kommen lässt und wo dann diese vermeintlich zentrale Spannungslinie alles andere ein Stück weit überwölbt und verdeckt. (Lisa Nimmervoll, 27.2.2023)