Bizarre Künstlichkeit: Annamaria Ajmone in ihrem Solo "La notte è il mio giorno preferito"

Foto: Andrea Pizzalis

Sie wandert einsam im nächtlichen Wald, sie heult mit den Wölfen. Und sie tanzt den sinisteren Konflikt Mensch versus Natur. Dabei ahmt die italienische Choreografin und Tänzerin Annamaria Ajmone in ihrem Solo weder den wirklichen Wald nach noch den bekannten Klang des Geheuls. Vielmehr führt sie einen Verfremdungseffekt vor, der entsteht, wenn die Realität der Natur in kulturelle Fantasien übertragen wird.

Mit Ajmones Tanz der Nacht, die ihr hier zum "Lieblingstag" (giorno preferito) wird, startet das Brut-Theater sein aktuelles Frühlingsfestival Imagetanz. Direkt oder indirekt wird sich das in diesem Stück angerissene Thema auf mehreren Ebenen durch das gesamte Festival ziehen. Im wieder stark vertretenen Genderdiskurs etwa kocht die Debatte darüber, ob es ein biologisches Geschlecht gibt, und über dem Kolonialismus-Diskurs hängt die Kritik unserer Ausbeutung der natürlichen Ressourcen unseres Planeten.

Hinter La notte è il mio giorno preferito gärt die uralte Tradition der Selbstbehauptung des Menschen in der Natur, dem von Ajmone so genannten "Anderen". Die Stimmung ist hoch aufgeladen mit einer bizarren Künstlichkeit, die dem Kippen der humanen Selbstbehauptung in einen Abnützungskrieg gegen dieses Andere entspricht, den unsere Spezies nie gewinnen kann. Einsam geistert die Tänzerin durch ihren mit Haarskulpturen repräsentierten Kultur-Wald wie eine verloren gegangene Wila aus dem Ballett Giselle.

Bart aus Flachs

Ihr Umherirren steigert sich mehr und mehr zu einem in elektronische, oft perkussive Sounds gebadeten und an Intensität zulegenden Tanz, der wiederholt ab- und dann wieder ausbricht. Die Tänzerin bindet sich einen langen Bart aus Flachs um den Hals, zerrt und zieht daran und verwandelt ihn in eine Ganzkopf-Perücke. Wenig später taucht sie ihren Zeigefinger in ein Farbfläschchen, malt sich ihre Zunge weiß und streckt sie weit aus dem Mund. Das erinnert an den Haka-Kriegstanz der Maori, in dem Frauen eine wichtige Rolle spielen und den Männern das Zungezeigen überlassen ist.

Foto: Andrea Macchia

Dieser angedeutete Gender-Shift, das Kriegerische und das Blinde, die ambivalente Künstlichkeit der Szenerie sind sämtlich undidaktisch eingesetzt. Das Poetische überlagert die hintergründigen "Lehren", die assoziativ aus diesem Stück gezogen werden können. Hier arbeitet die 1981 geborene Choreografin im Sinn eines emanzipierten Publikums, das in der Kunst andere Formulierungen sucht als jene der Medien.

Annamaria Ajmones Titelwahl bezieht sich auf jene Nächte, die sie während der Recherchen zu diesem Stück im nächtlichen Wald zugebracht hat. Ihr ist klar, dass auch diese "Natur" de facto eine Kulturlandschaft ist, deren Form durch Bewirtschaftung verändert wurde. Im Lauf von La notte è il mio giorno preferito scheint sich der Begriff des "Anderen" umzukehren: Aus Sicht der vielfältigen Natur wären wir feindselig gewordene Aliens, die sie mit ihrem inkompetenten "Terraforming" zur absterbenden Monokultur reduzieren. (Helmut Ploebst, 3.3.2023)