Studieren ist bestimmt nicht das Erste, woran man denkt, wenn man vor einem Krieg flüchtet. Doch ein Jahr nachdem russische Truppen in die Ukraine einmarschiert sind, stellen Studierende aus dem angegriffenen Land die größte Gruppe im Vorstudienlehrgang der Wiener Universitäten dar: Von den rund 2000 jungen Erwachsenen, die an einer Wiener Uni studieren wollen, allerdings noch Ergänzungsprüfungen ablegen müssen, seien rund 650 aus der Ukraine, erzählt die Direktorin des Vorstudienlehrgangs, Sonja Winklbauer. Etwa 430 Studienanwärter kommen aus Russland. In den Uni-übergreifenden Lehrgängen absolvieren sie Deutschkurse oder holen Stoff aus anderen Fächern nach.

Von den rund 2000 jungen Erwachsenen, die an einer Wiener Uni studieren wollen, allerdings noch Ergänzungsprüfungen ablegen müssen, kommen rund 650 aus der Ukraine.
Foto: Christian Fischer

Je länger der Krieg dauert, umso mehr mache man alles, "um seinen Aufenthalt zu festigen", sagt Brigitte Lueger-Schuster vom Institut für Klinische und Gesundheitspsychologie der Uni Wien. Das heißt: die Sprache lernen, einen Job suchen oder ein Studium beginnen. Durch den anhaltenden Krieg werde Geflohenen klar, dass sie zumindest vorerst nicht zurück in die Heimat könnten. Bis es so weit sei, würden sich viele junge Ukrainerinnen und Ukrainer bestmöglich darauf vorbereiten wollen, ihr Land wieder aufzubauen, sagt Lueger-Schuster.

Doch diese jungen Erwachsenen seien einem "Bündel an Belastungsfaktoren" ausgesetzt. Zu dem Stress und den Problemen, die alle Erstsemestrigen hätten, die sich an einer Hochschule neu orientieren müssten, kämen Sprachprobleme – und der Krieg: "Viele aus der Ukraine haben alles verloren – Familie, Freunde und das gewohnte Leben", sagt die Psychologin.

Multiple Krisen

In Österreich fehle dann tage- oder wochenlang der Kontakt zu den zurückgebliebenen Familienmitgliedern, die Sorge um sie sei groß. Bei jungen Männern, die hier angekommen und mittlerweile über 18 Jahre alt seien, komme ein weiteres persönliches Dilemma hinzu: Hierbleiben und studieren oder zurückkehren und kämpfen? "Andere wiederum beschäftigt das, was sie im Krieg oder auf der Flucht erlebt haben. Ein Bombenalarm ist etwas, was man nicht so einfach vergisst." Und ältere Geschwister müssten plötzlich "sehr viel Verantwortung" für die jüngeren übernehmen. "In vielen Flüchtlingsfamilien übernimmt die Jugend – vor allem wegen des schnelleren Spracherwerbs – das Parenting", sagt Lueger-Schuster. Sie organisieren etwa Schulplätze, kommunizieren mit Lehrenden und Behörden.

Für sie hat die Uni Wien daher gemeinsam mit dem Vorstudienlehrgang ein Programm ins Leben gerufen, dass mit dem Sommersemester startet: Für "Mein Weg" wurden 27 Masterstudierende der Psychologie und Bildungswissenschaften ausgewählt, die unter der Supervision von Lueger-Schuster als Mentorinnen und Mentoren fungieren sollen. Jeweils zwei von ihnen werden vier bis sechs ukrainische Studierende ein Mal pro Woche betreuen.

Die 25-jährige Amelie Völkel ist in den Endzügen ihres Psychologiemasters. Im Sommersemester betreut sie Ukrainer.
Foto: Christian Fischer

Eine von ihnen ist Amelie Völkel. Die 25-Jährige ist in den Endzügen ihres Masters in Psychologie. Sie wollte "unbedingt etwas tun", als in der Ukraine der Krieg ausbrach, sagt sie. Nachsatz: "Aber etwas, worin ich gut bin." Bei dem Programm könne sie ihre Kompetenzen einbringen und einen großen Beitrag leisten. "Weil ich selbst Studierende bin, kann ich nachvollziehen, wie schwierig es am Anfang sein kann." Die zwei ECTS-Punkte, die Völkel für ihr Engagement erhält, bräuchte sie gar nicht.

Keine Tipps und Tricks

Und was ist das Ziel? "Den Studierenden eine gute Begleitung in die neue Situation zu geben – auf persönlicher Ebene und fachlich", sagt Winklbauer. "Die Ressourcen der Studierenden zu stärken und ihnen Bewältigungsstrategien in die Hand zu geben", sagt Völkel. Wie diese aussehen können? "Es gibt keine Tipps und Tricks, aber Möglichkeiten, Stress abzubauen und sich zu beruhigen", sagt Lueger-Schuster: "Das sind zum Beispiel ganz einfache Atemübungen."

Lueger-Schuster unterstützt die Mentoren fachlich.
Foto: Uni Wien / Alexander Bachmayer

Auch über besondere Herausforderungen hat sich Völkel Gedanken gemacht: die Sprachbarriere etwa, oder den Fall, dass jemand ein "klinisch sehr auffälliges Verhalten" an den Tag legt – etwa das einer schweren Depression. Denn dafür sind die Studierenden nicht zuständig. "Wir haben eine Liste mit psychosozialen Angeboten für die Studierenden und Ansprechpartner für uns", sagt Völkel – Lueger-Schuster gehört dazu.

Im Vorstudienlehrgang will man überlegen, ob das Mentorenprogramm ausgedehnt werden kann. Denn auch andere Menschen aus Krisengebieten bräuchten Unterstützung, sagt Winklbauer – unabhängig von der Nationalität. (Oona Kroisleitner, 5.3.2023)