Der russische Regisseur Dmitri Tcherniakov formt Sergej Prokofjews Oper "Krieg und Frieden" in München zum Antikriegsstück.

Foto: W. Hoesl

Seit Serge Dorny an der Bayerischen Staatsoper in München das Sagen hat, hat es wohl bislang keine heiklere, herausforderndere Produktion wie die jüngste gegeben. Und das natürlich nicht vordringlich, da Sergej Prokofjews Oper Krieg und Frieden musikalisch ein Riesenbrocken ist, der es, trotz beherzter Striche, auch in München noch (mit einer vierzigminütigen Pause) auf über vier Stunden Bruttospielzeit bringt.

Die Oper nach Tolstois berühmter Romanvorlage ist ein Paradebeispiel für patriotische Mobilmachung, weil ein Eroberer aus dem Westen bis Moskau vorzudringen versucht. In Zeiten, in denen Russland seinerseits die Rolle des Aggressors einnimmt, ist es denn auch eine besondere Herausforderung, hier szenische Lösungen zu finden.

Geschichtsträchtig

Regisseur Dimitri Tcherniakov gelingt das. Er verlegt (wie immer auch als sein eigener Bühnenbildner) das Geschehen in den berühmten Säulensaal des Moskauer Hauses der Gewerkschaften. Es ist der wohl geschichtsträchtigste Saal Russlands. Es war der Ort von Kongressen, Lenin-Reden, Schauprozessen und Aufbahrungen von berühmten Toten wie Lenin, Stalin und etlichen Nachfolgern bis hin zu Michail Gorbatschow.

Dass dieser berühmte Saal auf der Münchener Bühne die Anmutung einer Notunterkunft für Flüchtlinge (oder Bedrängte) von heute hat, ist wohl die zentrale Pointe, mit der Tcherniakov Position bezieht. Dass hier alle die Geschichte von Fürst Andrej und Natascha, den Kampf gegen Napoleon und dessen Anmaßung quasi nur nachspielen, schafft zudem die nötige Distanz.

Wirkung des Krieges

Dass alle Figuren diesem Spiel nicht entkommen, fügt der Distanz zudem eine Irritation hinzu, die zum Nachdenken über die verheerende Wirkung von Krieg an sich zwingt. Insofern ist auch das, was hier nicht völlig gelungen scheint, Teil des Gelingens!

Im Detail bleibt die Liebesgeschichte im Stück szenisch oft isoliert. Packend allerdings der verzweifelte Versuch Nataschas, mit dem tödlich Verwundeten noch einmal in der Walzerseligkeit von einst zu schwelgen. Durchwegs stark gelingen die nachgespielten Ausbrüche von kollektiver Aggression bis hin zur Überzeichnung. Dass der Krieg das Gegenteil von Vernunft und Zivilisation ist, wird so offensichtlich. Tscherniakov hat sich mit dieser Inszenierung auf ein Hochseil begeben und ist nicht abgestürzt.

Ein Statement

Wer wie Serge Dorny nach dem Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine vor über einem Jahr an der Entscheidung für dieses Stück festhält, gibt damit per se auch ein Statement gegen jene Cancel-Culture ab, die eine Verbannung russischer Kunst fordert und womöglich ebenso auf den Mann im Orchestergraben, Vladimir Jurkowski, gezielt hätte, auch wenn er sich deutlich gegen die russische Aggression ausgesprochen hat.

Es gab aber keine Proteste. Musikalisch? Dem Russen und Musikchef des Hauses gelingt es, die tragische Lovestory zwischen Fürst Andrej (Andrei Zhilikhovsky) und Natascha (Olga Kulchynska) sensibel auszugestalten. Auch im zweiten Teil mit all dem martialisch hereinbrechenden Kriegsgetöse, das Napoleons Marsch auf Moskau mit sich bringt, bleibt das Klangbild ausbalanciert.

Niemand geht verloren

Meistens gelingt Jurkowski dies auch bei den Chören, denen die Regie ein exzessiv individuelles Bewegungsprogramm verordnet. Es ist insofern eine faszinierende Leistung, wenn keiner der über 40 durchwegs exzellenten Protagonisten abhandenkommt. Jeder und jede kann sich nicht nur mit vokalen Glanzleistungen, sondern auch szenisch angemessen profilieren.

Prokofjew war übrigens jener Komponist, der 1953 am selben Tag wie Diktator Stalin starb. Dieser 5. März war 70 Jahre später auch der Tag dieser Münchner Premiere, der Zustimmung entgegenströmte. Und dabei auch Zhilikhovsky und Kulchynska, die das Paar Andrej und Natascha darstellten und als klares Zeichen schließlich T-Shirts mit dem Wappen der Ukraine trugen. (Joachim Lange aus München, 7.3.2023)