Der Schneidermeister in seinem Atelier in Berlin. Die Aufnahmen stammen aus dem oscarnominierten Film "Tár". Hier ist Egon Brandstetter mit Schauspielerin Noémi Merlant zu sehen.
Foto: Universal Pictures

Egon Brandstetter stammt ursprünglich aus Oberösterreich und landete nach vielen Stationen, darunter, Wien, Köln, London und Paris, in seinem Atelier in Berlin.

Der Schneider entpuppt sich als sehr angenehmer Gesprächspartner. Er freut sich sichtlich über das Interesse an seiner Arbeit, spricht besonnen, dann auch wieder euphorisch und weist immer wieder darauf hin, wie wichtig ihm die handwerklichen Aspekte bei seinem Job sind. Das Atelier an der Berliner Chauseestraße erlangt nun ausgerechnet durch Hollywood Berühmtheit. Sein Geschäft Brandstetter & Straub ist zu Beginn die zentrale Location im Oscar-nominierten Film Tár. Und Brandstetter? Der spielt sich selbst.

Egon Brandstetter mit Tár-Hauptdarstellerin Cate Blanchett.
Foto: Universal Pictures

STANDARD: Sie sind am Anfang des oscarnominierten Films "Tár" zu sehen, gemeinsam mit der Hauptdarstellerin Cate Blanchett bei einer Anprobe in Ihrem Geschäft. Reisen Sie denn auch zur Oscarverleihung?

Egon Brandstetter: Nein, für eine Einladung nach Hollywood hat mein Auftritt nicht gereicht. Es war mehr oder weniger ein Zufall, dass ich am Anfang des Films vorkomme. Der Regisseur Todd Field hat mich gefragt, ob ich mich selber spielen möchte und ich hab natürlich Ja gesagt.

STANDARD: Was würden Sie anziehen, wenn Sie zur Oscarverleihung eingeladen wären?

Brandstetter: Da käme ich ganz schön in die Bredouille. Ich verstehe mich als Handwerker und arbeite sehr viel. Da bleibt kaum Muße, um für mich selbst zu schneidern. Also ich käme mit Sicherheit nicht so elegant daher wie viele meiner Kunden. Ich würde mich also definitiv für einen klassischen Smoking entscheiden.

STANDARD: Der Chefschneider von Brioni, Angelo Petrucci, verriet mir vor längerem, er besitze 150 Anzüge. Wie viele hängen denn bei Ihnen im Kasten?

Brandstetter: Vielleicht fünf. Aber Herr Petrucci hat die Anzüge wohl kaum selber nähen müssen. Wenn ich mir selbst einen Anzug anfertige und dafür 100 Stunden benötige, fehlen mir diese 100 Stunden Arbeitszeit in der Firma. Und fehlen all diese Stunden, würden mir mein Geschäftspartner und meine Mitarbeiter wahrscheinlich aufs Dach steigen.

Für die Anfertigung eines Anzuges benötigt man 100 Stunden.
Foto: Henning Moser Fotografie, Brandstetter & Straub GbR

STANDARD: Was sollte man denn als Mann bei den Oscars tragen? Nur Smoking?

Brandstetter: Es gilt dort "Black Tie". Man könnte es aber ein bisschen raffinierter angehen und zum Beispiel Nachtblau tragen. Auch mit Accessoires wäre es möglich, ein paar Akzente zu setzen.

STANDARD: Was geht gar nicht?

Brandstetter: In dieser Frage möchte ich mir nichts anmaßen. Im Falle einer Auszeichnung von der Academy steht die Qualität der Arbeit im Vordergrund, nicht das Outfit. Da muss man nicht auffallen wie ein Papagei. Bei den Grammys geht es anders zu, weniger klassisch.

STANDARD: Der Schauspieler Timotheé Chalamet trug im vergangenen Jahr einen dunklen Blazer ohne ein Hemd darunter. Ein No-Go?

Brandstetter: Nein, ich finde das sehr interessant. Chalamet spielt gern mit androgynen Elementen, das sah man auch bei seinem Auftritt während der Filmfestspiele in Venedig. Ich denke, mit solchen Tabubrüchen oder Experimenten werden Diskussionen angeregt. Vielleicht werden somit andere Männer motiviert, sich mehr zu trauen. Das schadet ja nichts.

Egon Brandstetter beim Maßnehmen.
Foto: Henning Moser Fotografie, Brandstetter & Straub GbR

STANDARD: Was halten Sie von Dresscodes?

Brandstetter: Im Prinzip ist der Dresscode eine Entscheidungshilfe, weil er eine Richtung vorgibt. Das ist doch auch bequem. Außerdem find ich es schön, wenn es noch Bereiche wie zum Beispiel Bälle gibt, in denen gewisse Strukturen gelten. Das hat etwas Charmantes. Gäbe es keine Dresscodes mehr, würden sich die Menschen aus Bequemlichkeit vielleicht noch weniger Gedanken machen. Es geht auch um eine gewisse Form des Respekts dem Moment gegenüber.

STANDARD: Wie denken Sie über weiße Socken?

Brandstetter: Lustigerweise hat man die in Berlin-Mitte eine Zeit lang sehr oft gesehen. Der Stadtteil ist manchmal ein bisschen eine Karikatur der Geschmacklosigkeit.

STANDARD: Inwiefern?

Brandstetter: Lassen Sie es mich so sagen. Ich bin in den 1980ern gehänselt worden, weil ich Kleidung vom Nachbarn aus den 1970ern tragen musste. Heute geht man mit so etwas viel humoristischer um. "Bad taste" ist zum Teil hip geworden. Menschen provozieren absichtlich mit weißen Socken, um einen gewissen Kodex zu brechen.

STANDARD: Wie stehen Sie dazu?

Brandstetter: Ich finde es nicht gut, wenn etwas zu konstruiert rüberkommt. Lässt man sich von Phänomenen inspirieren, die rund um die Uhr auf Social-Media-Kanälen kursieren, kann das Ergebnis zu konzeptionell und zu durchdacht sein. Auch ein avantgardistischer Zugang bedarf einer gewissen Natürlichkeit.

Ein Maßanzug für eine Hochzeit.
Foto: Universal Pictures, Henning Moser Fotografie, Brandstetter & Straub GbR

STANDARD: Wie sieht der perfekte Anzug im Jahr 2023 aus?

Brandstetter: Tatsächlich verhält es sich so, dass die Jacken wieder länger und die Revers breiter werden. Die Schulter bleibt weich, die Schnitte sind etwas entspannter. In den vergangenen Jahren rutschten die Jacken immer mehr nach oben und die Hosen wurden immer enger. Schon seit längerem findet ein gewisser Umschwung statt. Mehr Eleganz ist angesagt. Man muss die Knöchel nicht mehr zeigen.

STANDARD: Apropos Eleganz: Würde heute ein Mann wie Cary Grant im Nadelstreif und Kamelhaarmantel samt Hut auf der Straße auftauchen, täten ihn manche vielleicht als schnöseligen Lackaffen ab. Oder?

Brandstetter: Auch zu Zeiten von Cary Grant ist nicht jeder im Nadelstreif herumgelaufen. Grant ist bestimmt auch damals aufgefallen, ganz abgesehen davon, dass nicht jeder so aussah wie Cary Grant. Heute ist halt einfach alles erlaubt. Nadelstreif, Kamelhaarmantel und Hut würden vielleicht in unseren Tagen etwas kostümartig wirken.

STANDARD: Wie anachronistisch und uniformistisch ist ein Anzug in Zeiten, in denen alles erlaubt ist?

Brandstetter: Klar kann man dieses Kleidungsstück in Richtung Uniform interpretieren. Ich erlebe aber auch, dass der Anzug wieder sehr beliebt ist und auch von Menschen aus Berufssparten getragen wird, in denen der Anzug ganz und gar nicht obligatorisch ist. Auch junge Männer sehnen sich mehr und mehr nach schicken Outfits. Das hängt auch mit Corona zusammen.

STANDARD: Wie das?

Brandstetter: Die Leute verbrachten viel Zeit im Trainingsanzug im Homeoffice. Dadurch entstand mehr Lust darauf, sich etwas Mühe zu geben und eleganter zu sein.

STANDARD: Sie haben einige Zeit in Italien gelebt. Ist der Römer eleganter als der Berliner?

Brandstetter: Bei solchen Fragen bin ich lieber vorsichtig. Was soll ich darauf sagen? Ich will es mir ja nicht mit meiner Kundschaft verscherzen. Außerdem lässt sich das ja auch nicht verallgemeinern. Da geht es viel um Klischees. Berlin ist immer noch sehr spannend. Außerdem habe ich Kundschaft aus aller Welt von Südkorea bis Lateinamerika.

STANDARD: Ich habe gelesen, dass Sie an einem Knopfloch 20 Minuten arbeiten. Wie lange warte ich auf einen Maßanzug?

Brandstetter: Sagen wir drei bis vier Monate inklusive dreier Anproben.

STANDARD: Wie viel muss ich dafür berappen?

Brandstetter: Bei Maß-Konfektion starten wir bei 1500 Euro, bei einem handgenähten Vollmaßanzug gehts bei 5000 los.

STANDARD: Welche Fehler machen Männer beim Kauf von Anzügen?

Brandstetter: Ich halte es für problematisch, wenn man alleine einkaufen geht. Kauf ich mir einen Anzug von der Stange, bin ich vom Verkaufspersonal abhängig. Das kann sehr ehrlich, loyal und verständnisvoll sein, aber auch auf Provision aus. Hinzu kommt, dass man allein in der Umkleidekabine sehr schwer beurteilen kann, wie das Kleidungsstück von der Seite und von hinten aussieht und somit auf andere wirkt.

Eine weitere Szene aus dem Streifen "Tár" von Regisseur Todd Field, der den Schneider fragte, ob er sich nicht selbst spielen wolle.
Foto: Universal Pictures

STANDARD: Was war der schrägste Auftrag, den Sie je angenommen haben?

Brandstetter: Da gibt es einige, wobei es weniger um das Design oder den Stoff, sondern eher um Befindlichkeiten geht. Ich habe gemeinsam mit einem Kunden eine Hose entwickelt. Er war am Bauch operiert worden und hat den Druck vom Hosenbund nicht ausgehalten, wenn er sich hinsetzen musste. Für ihn konstruierte ich einen Magnetverschluss an der Seite der Hose, also beim Bund. Stand der Kunde auf, schnappte der Verschluss ein, setzte er sich hin, gab dieser nach. Das sind spannende, technische Dinge.

STANDARD: Haben Sie noch eine Geschichte auf Lager?

Brandstetter: Letztes Jahr war ein Kunde bei mir, dessen Bauchumfang zwei Meter betrug. Für so jemanden eine Kleidungslösung zu finden, erachte ich teilweise als spannender, als für eine Konfektionsgröße von 48 einen Kaschmiranzug zu schneidern.

STANDARD: Wer sind eigentlich Ihre Kunden?

Brandstetter: Da sind Politiker, Industrielle, Minister, Millionäre und Milliardäre ebenso dabei wie Menschen, die ihr halbes Leben lang auf einen Maßanzug sparen. Ich habe einmal einen sehr solventen Herren aus Hamburg gefragt, warum er eigentlich zu mir kommt. Die Antwort lautete: "Weißt Du, was ich bei Dir kriege, das kann ich mir mit Geld nicht kaufen."

STANDARD: Und das wäre?

Brandstetter: Das wäre sich zu mögen, auf einer Wellenlänge zu sein und sich gemeinsam auf ein Geschäft einzulassen. Kaufe ich ein Teil von einem Designer, weiß ich, was mich erwartet. Beim Maßschneider geht es um eine Zusammenarbeit.

STANDARD: Ich nehme an, Diskretion wird bei Ihnen großgeschrieben.

Brandstetter: Sehr groß. In zweierlei Richtungen. Wissen Sie, natürlich werde ich gern weiterempfohlen. Manche Kunden tun das aber nicht, weil sie befürchten, ich hätte in Zukunft längere Wartezeiten für sie. Das galt schon immer für einen guten Schneider.

STANDARD: Haben Sie schon einmal etwas bei H&M gekauft?

Brandstetter: Natürlich, hat doch jeder, oder?

STANDARD: Noch einmal zurück zu den Oscars. Welchen Star würden Sie am liebsten einkleiden?

Brandstetter: Ui, da wird es eine Überraschung geben. Aber darüber darf ich noch nicht sprechen. Sorry. (RONDO, Michael Hausenblas, 11.3.2023)