Die Wiener Company Liquid Loft möchte jungen Tanz bewahren.

Foto: Michael Loizenbauer

Manche legendären Tänze werden nie wieder kommen. Zum Beispiel der gemeinsame Auftritt von Louise Lecavalier und David Bowie in dessen "Sound+Vision"-Tour, die 1990 von dem Choreografen Édouard Lock mitgestaltet wurde. Bowies Musik bleibt immerhin in Aufnahmen erhalten. Beim Tanz ist das nicht so einfach, denn keine existierende Technik kann diese Kunst aus Choreografie, Körperbewegung, Musik, Raum und Licht adäquat festhalten und wiedergeben.

Ein Vergleich: Was wäre, wenn sich ein Buch nach seiner Lektüre oder ein Bild nach der Betrachtung auflöste? Oder wenn ein Film im Abspielgerät verschwände? Unvorstellbar? Ja, aber in einer solchen Situation befindet sich der Tanz. Abertausende Werke dieser Kunst lösten sich bisher – meist nach wenigen Aufführungen – buchstäblich in Luft auf.

Tanzstücke können nur immer wieder neu erarbeitet oder rekonstruiert werden. Dem widmen sich aktuell zwei Projekte in Wien: Die Wiener Company Liquid Loft unter Chris Haring bringt im Odeon eine Serie von Reprisen unter dem Titel Living Positions auf Schiene. Und als Lebendiges Tanzarchiv Wien versuchen im Brut-Theater Tänzerinnen von heute das Werk der Wiener Legende Grete Wiesenthal aus dem frühen 20. Jahrhundert neu erfahrbar zu machen.

Ikonen des Spitzentanzes

Wie wichtig dieses Bewahren für die kulturelle Zukunft ist, zeigt sich aktuell im Ballett. Nicht ohne Grund arbeiten sich gerade Choreografiestars der Gegenwart an Ikonen des Spitzentanzes ab. Die Südafrikanerin Dada Masilo greift auf Schwanensee oder Giselle zurück, und Florentina Holzinger auf La Sylphide, um etwas über unsere Zeit in historischen Zusammenhängen auszusagen. Das funktioniert aber nur, wenn die ursprünglichen Werke als Referenz erhalten oder rekonstruiert werden.

Der Zeitraum zwischen der Liquid-Loft-Initiative und der des Lebendigen Tanzarchivs umfasst ein turbulentes Jahrhundert, dessen Folgen unsere Gegenwart bestimmen. Gut also, dass das Lebendige Tanzarchiv von der Wiener Expertin Andrea Amort geleitet wird, die ihre kulturhistorische Kompetenz nach etlichen Tanzpublikationen und -rekonstruktionen auch mit der von ihr kuratierten Schau Alles tanzt – Kosmos Wiener Tanzmoderne im Theatermuseum bewiesen hat.

Christine Gaiggs Jelinek-Bearbeitung "Über Tiere" von Living Positions
Foto: Stephan Rappo

Im Brut geht es dem Tanzarchiv Ende März unter dem Titel Glückselig. War gestern, oder? Eine Aneignung um Wiesenthal, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts nach ihrem Sprung zur "Koryphäe des Wiener Hofopernballetts" als Tänzerin selbstständig machte und im Trio mit ihren Schwestern populär wurde. Ab 1910 machte sie dann eine Solokarriere mit eigener Tanztruppe, Ausflügen ins Schauspiel und als Choreografin.

Living Positions wiederum soll uns vor dem Totalverlust des jüngeren choreografischen Schaffens bewahren. Beim Projektauftakt vergangenen Oktober kam die 2012 im Tanzquartier uraufgeführte Performance Grace Note von Liquid Loft und dem Ensemble Phace wieder auf die Bühne. Jetzt erweitert Living Positions sein Spektrum und zeigt Christine Gaiggs Jelinek-Bearbeitung Über Tiere von 2007, Simon Mayers Sons of Sissy (2015) und Chris Harings Posing Project A – The Art of Wow aus dem Jahr 2007. (Helmut Ploebst, 15.3.2023)