Laut Schätzungen der Autistenhilfe sind in Österreich 48.500 Kinder von einer Autismus-Spektrums-Störung (ASS) betroffen.

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"Mama, ich mag Freunde finden." Diese Worte hat Adam im Frühjahr 2022 zu seiner Mama, Desiree S. gesagt, erzählt sie. Der Elfjährige sei ein aufgewecktes, dankbares und ehrgeiziges Kind, das "alles können möchte". Ihre Antwort fiel daher pragmatisch aus: "Ja gut, Freunde findest du in der Schule." Zuerst musste die Schule aber nach Hause kommen: Der Gang wurde zum Schulweg, das Wohnzimmer zur Klasse umgestaltet. Die Mutter S. spielte Lehrerin. Alle Abläufe wurden bis ins kleinste Detail besprochen und auf Post-its festgehalten, erzählt sie. "Zwei Wochen lang haben wir dann Schulsituationen simuliert." Dieses Mal sollte es endlich klappen – Adam hätte sich nichts sehnlicher gewünscht.

Das, was der Bub bis dahin mit dem Ort Schule assoziierte, war vor allem eines: Schrecken. Bereits im Kindergarten stand der Verdacht auf Autismus im Raum. Beim Volksschuleintritt wurde die Lehrerin darüber informiert. "Doch der Unterricht war chaotisch und unstrukturiert. Die dadurch ausgelöste Reizüberflutung war Adam zu viel", sagt seine Mutter. Er fing an, regelmäßig von der Schule wegzulaufen. Irgendwann dürfte die Lehrerin resigniert haben. "Heute lief es gut. Er ist den ganzen Vormittag in der Ecke gesessen", habe diese zu S. gesagt.

Leben umgekrempelt

Therapien, Untersuchungen, Gespräche mit der Schule: Es half nichts. Als es Adam immer schlechter ging, fasste die Mutter einen Entschluss: Sie nahm ihn von der Schule, kündigte ihren Job und unterrichtete Adam fortan zu Hause – bis ins Frühjahr 2022, als die Diagnose Autismus seinem Leiden endlich einen Namen gab. Doch die von Adam ersehnte Normalität kehrte nicht ein: Auch in der Sonderschule, wo sie den neuen Schulversuch starteten, war er schnell überfordert von den anderen Kindern, von der Umgebung. Wieder rannte Adam davon. "Trotz dutzender Gespräche konnte für Adam keine adäquate Situation geschaffen werden", sagt S. Im Herbst wurde bei ihm eine mittelschwere Depression diagnostiziert. Seither ist er wieder zu Hause.

Der kleine Adam im Urlaub mit seiner Familie.
Foto: Desiree S./privat

Es sind schulische Odysseen wie jene von Adam, die nicht am Radar der Gesellschaft sind. Und das trotz vieler betroffener Kinder, worauf am Sonntag der Welt-Autismus-Tag aufmerksam machte. Laut Schätzungen der Autistenhilfe sind in Österreich 48.500 Kinder von einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) betroffen; Erscheinungsform und Schweregrade sind jedoch von Fall zu Fall verschieden. Ein Umstand, der sich auch im Bildungswesen bemerkbar macht: Egal ob in Regel-, Integrations- oder Sonderschulklassen, Kinder mit ASS sind – mit oder ohne pädagogische Unterstützung – überall vertreten.

Durchs System gefallen

Wie viele Kinder jedoch nicht vom schulischen System aufgefangen werden können, dazu gibt es keine Zahlen. Denn die Gründe für Anmeldung für den häuslichen Unterricht erfasst das Bildungsministerium nicht. Kann es sein, dass gewisse Kinder, wie die Mutter von Adam sagt, im Stich gelassen werden?

Für die ehemalige Präsidentin der österreichischen Autistenhilfe, Jutta Steidl, ist diese Frage eng verwoben mit der Verfügbarkeit von Fachassistenzen. "Bevor wir diese 2005 einführten, sind reihenweise Kinder aus den Schulen geflogen", sagt sie im STANDARD-Gespräch. Für ASS-Kinder seien diese Unterstützungskräfte im Unterricht essenziell. Und doch bieten sie nicht alle Länder gleichermaßen an: "In Wien ist es leichter, eine Fachassistenz zu bekommen, als etwa in Niederösterreich, wo die Kommunen diese finanzieren müssten – und oftmals kein Geld dafür haben."

Diese lückenhafte Versorgung ist derzeit auch Gegenstand einer Verbandsklage, die sich gegen das Bildungsministerium richtet. Das Ziel: Alle Kinder mit ASS sollten, wie auch Schülerinnen mit Körperbehinderungen, das Recht auf eine persönliche Assistenz erhalten.

Späte Diagnose mit Folgen

Neben dieser seien Steidl zufolge außerdem ein gutes Therapieangebot und frühe Diagnostik notwendig. Selbst in Wien liegt die Wartezeit für eine Abklärung derzeit aber bei einem Jahr. Welche Folgen diese langen Wartezeiten haben, zeigt sich in Adams Fall: "Sein Schultrauma ist mittlerweile manifest", sagt seine Mutter S. Für sie liegt die Lösung daher nicht in einer Assistenzkraft; zumal nicht klar sei, ob die kleine Gemeinde in Niederösterreich die Kosten überhaupt übernehmen würde, sagt S.

Auch der Vorschlag der Bildungsdirektion dürfte nicht fruchten: Sie genehmigte Adam zwar den "Hausunterricht", wodurch er in den eigenen vier Wänden von einem Pädagogen unterrichtet werden könnte. Doch sowohl die Suche als auch das Ansuchen um Finanzierung bleiben an den Eltern hängen. "Wir haben selbst keine Leute", habe die Bildungsdirektion Niederösterreich zu S. gesagt.

Ein Roboter als Hilfe

Einen Ausweg aus diesem Dilemma sieht die psychotherapeutische Mitarbeiterin Madlen Kapeller vom Verein Nomaden, die Adam betreut, in der Verwendung eines "Avatars"; eines Kommunikationsroboters. Dieser würde ihm ermöglichen, am Unterricht von zu Hause aus teilzunehmen und dennoch interagieren zu können – mittels Roboter, der in der Klasse steht. "Das könnte Kindern mit starker Reizüberflutung wirklich helfen", so Kapeller. An diesen Strohhalm klammert sich auch die Mutter, die bei der Bildungsdirektion nun um einen Avatar angesucht hat.

Auf STANDARD-Nachfrage gibt man sich dort zurückhaltend: Bei Kindern, die nicht in den Regelunterricht kommen können, würden Avatare bereits erprobt. "Sie sind aber grundsätzlich für Kinder mit chronischen Krankheiten, die etwa durch einen langen Spitalsaufenthalt den sozialen Anschluss verloren haben", heißt es aus der Direktion. Ob Adam einen erhält, ist ungewiss.

Was die Integration in der Klasse anbelangt, sei dies klarerweise das Ziel. "Aber es ist ein Weg, um trotzdem teilzunehmen und sich an die Klassensituation zu gewöhnen", sagt Kapeller. Freunde hat Adam mittlerweile gefunden, erzählt seine Mutter. Täglich treffe er sich mit zwei Buben aus der Schweiz zum Spielen – im Internet. "Also das, was im echten Leben noch nicht möglich ist." (Elisa Tomaselli, 2.4.2023)