In seinem Gastkommentar schreibt der ehemalige Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen über die zunehmenden Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan. Die Energieinteressen der EU dürften nicht schwerer wiegen als Werte.

Die Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan nehmen wieder zu. Droht hier ein neuer Krieg?
Foto: AP/Vahram Baghdasaryan

Alle Augen sind zu Recht auf Russlands Krieg in der Ukraine gerichtet. Aber das ist keine Entschuldigung dafür, eine andere Krise zu ignorieren, die sich vor der Haustür Europas zusammenbraut. Die Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan nehmen wieder zu, die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Krieges steigt.

Seit Dezember wird der Zugang zum Latschin-Korridor, der einzigen Straße, die die ethnische armenische Bevölkerung von Bergkarabach mit Armenien und der Außenwelt verbindet, von Aserbaidschan unter dem Vorwand eines Umweltprotests blockiert. Dies geschieht eindeutig mit Unterstützung des Regimes in Baku. Amnesty International warnt, dass rund 120.000 armenische Einwohnerinnen und Einwohner von lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen, einschließlich lebensrettender Medikamente und medizinischer Versorgung, abgeschnitten sind.

Humanitäre Krise

Der Internationale Gerichtshof (IGH) stellte fest, dass Aserbaidschan gegen seine Verpflichtung im Rahmen des Waffenstillstandsabkommens verstößt. Die russischen Friedenstruppen, die entlang des Korridors stationiert sind, sollen die Route schützen, haben aber nichts unternommen. Wenn Europa und die internationale Gemeinschaft nicht Druck auf Aserbaidschan ausüben, könnte sich die humanitäre Krise zu einer humanitären Katastrophe ausweiten.

Mit dieser Blockade und anderen Maßnahmen versucht Aserbaidschan, Bergkarabach zu unterdrücken. Die Bewohnerinnen und Bewohner werden häufig daran gehindert, in ihre Häuser zurückzukehren, Gas und Strom werden regelmäßig ohne Vorwarnung oder Erklärung abgestellt. Die Absicht ist eindeutig, der armenischen Bevölkerung das Leben so schwer wie möglich zu machen, und es besteht die ernste Gefahr einer bevorstehenden ethnischen Säuberung. Wir dürfen nicht wegsehen.

"Wir müssen deutlich machen, dass Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew mit Konsequenzen rechnen muss."

Das aserbaidschanische Regime (und seine Online-Trolle) spielen die Auswirkungen der Blockade – oder sogar ihre Existenz – herunter. Aber sie weigern sich auch, internationalen Beobachterinnen und Beobachtern Zugang zu gewähren, um die Lage zu beurteilen. Oberste Priorität für die internationale Gemeinschaft ist es daher, eine Erkundungsmission unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen oder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in den Korridor zu entsenden. Wir müssen deutlich machen, dass Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew mit Konsequenzen rechnen muss, wenn er sich weiter über die verbindliche Anordnung des IGH hinwegsetzt.

Militärischer Vorteil

Der Bergkarabach-Krieg 2020 hat deutlich gemacht, dass Aserbaidschan aufgrund der von Russland, der Türkei und Israel gekauften Waffen einen erheblichen militärischen Vorteil gegenüber Armenien hat. Diese Tatsache wurde im September erneut bestätigt, als Aserbaidschan nach nur zwei Tagen Gebiete in Armenien einnahm, darunter strategische Positionen oberhalb der Stadt Jermuk.

Obwohl Armenien immer noch Mitglied der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit ist, dem regionalen Bündnis, das Russland mit fünf benachbarten ehemaligen Sowjetstaaten verbindet, erhielt es keine Unterstützung, als es nach diesem Angriff auf sein Hoheitsgebiet um Hilfe bat. Das Land wurde schutzlos alleingelassen.

"Eine erneute Offensive gegen Armenien in den kommenden Monaten ist nicht auszuschließen."

Erschwerend kommt hinzu, dass Aserbaidschan seine Truppen auf armenischem Territorium belassen hat und sich weigert, armenische Kriegsgefangene zurückzugeben. Da die Friedensgespräche ins Stocken geraten sind, gibt es deutliche Warnzeichen dafür, dass Aserbaidschan glaubt, mit militärischen Mitteln mehr erreichen zu können als mit friedlichen Verhandlungen. Eine erneute Offensive gegen Armenien in den kommenden Monaten ist nicht auszuschließen.

Da der traditionelle Sicherheitspartner Armeniens, Russland, nicht in der Lage oder willens ist zu helfen, muss die EU eine größere Rolle spielen, um Frieden und Stabilität in der Region zu erhalten. Nach dem Wiederaufflammen der Feindseligkeiten im September entsandte die EU eine zivile Mission nach Armenien, um die Grenze zu Aserbaidschan zu überwachen. Doch es muss noch viel mehr getan werden.

EU-Mission aufstocken

Die EU-Mission sollte rasch aufgestockt werden, um die Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan in ihrer gesamten Länge zu überwachen. Die Staats- und Regierungschefs müssen die Regierung Alijew dazu drängen, EU-Personal auf aserbaidschanisches Gebiet zu lassen. Natürlich wäre eine unbewaffnete EU-Mission nicht in der Lage, die Feindseligkeiten zu beenden, aber eine verstärkte Präsenz würde den Druck auf Aserbaidschan erhöhen, Verhandlungen einer militärischen Konfrontation vorzuziehen.

Im Vorjahr hat die EU aufgrund der raschen Abkehr von russischem Gas und Öl immer engere wirtschaftliche Beziehungen zu Aserbaidschan aufgebaut. Die Staats- und Regierungschefs müssen Alijew jedoch klar zu verstehen geben, dass er nicht ungestraft handeln darf und dass die kurzfristigen Handelsinteressen Europas nicht schwerer wiegen werden als seine Werte oder sein langfristiges Interesse an der Erhaltung von Frieden und Stabilität im Südkaukasus. Wenn Aserbaidschan sich weiterhin über seine internationalen Verpflichtungen und rechtsverbindliche Gerichtsurteile des IGH hinwegsetzt, muss es mit politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen rechnen.

Aufstrebende Demokratie

Armenien ist eine aufstrebende Demokratie, die von äußerst schwierigen Nachbarn umgeben ist. Angesichts des schwindenden Einflusses Russlands muss Europa eine größere Rolle in der Region spielen. Dies ist keine Form der Nächstenliebe. Es liegt in unser aller Interesse, jetzt zu handeln, um einen weiteren großen Konflikt – oder sogar eine ethnische Säuberung – in unserem Hinterhof zu verhindern. (Anders Fogh Rasmussen, Übersetzung: Andreas Hubig, Copyright: Project Syndicate, 3.4.2023)