Dürfen Kinder ihre Erstsprache sprechen, gewöhnen sie sich schneller an die neue Umgebung im Kindergarten.
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Die Bildungswissenschafterin Karin Steiner leitet bei den Kinderfreunden Wien die EU-Forschungsprojekte Interreg. Darin erforscht sie seit 2016, wie man Mehrsprachigkeit und Nachbarsprachen – konkret Tschechisch, Ungarisch und Slowakisch – im Kindergarten umsetzen kann. Als sie damals bei Forschenden nach wissenschaftlich erprobten Konzepten gefragt hat, konnten sie ihr keine nennen. Also wurden in den Projekten sprachensensible Methoden entwickelt und in zehn Pilotkindergärten getestet. Bis die Ansätze komplett in den rund 160 Kindergärten ausgerollt seien, dauere es fünf bis zehn Jahre, schätzt die Expertin.

Karin Steiner (47) leitet die Abteilung EU-Projekte und pädagogische Entwicklungen der Kinderfreunde Wien. Im Gespräch genderte sie, daher auch im Text.
Foto: Felix Zangerl/Kinderfreunde

STANDARD: Die schwarz-blaue Regierung Niederösterreichs sprach sich kürzlich für eine Deutschpflicht in den Pausen aus. Was sagen Sie dazu?

Steiner: Das ist eine sehr monolinguale Vorstellung davon, wie Sprachen trotz einer immer mehrsprachigeren Gesellschaft verankert werden sollen. Solche Maßnahmen tragen nicht dazu bei, dass die Kinder besser und schneller Deutsch lernen.

STANDARD: Wieso ist Mehrsprachigkeit für Kinder so wichtig?

Steiner: Sie ist welteröffnend und wichtig für den weiteren Spracherwerb. Mehrsprachige Kinder haben Vorteile im kognitiven, sozialen sowie affektiven Bereich, in der Mathematik oder Demenzprävention, weil das Gehirn dadurch an Flexi bilität gewinnt. Auch einsprachige Kinder profitieren: Sie erhalten von klein auf eine Sprachsensibilisierung. Es ist ein Gewinn, Kinder früh mit vielen Sprachen in Kontakt zu bringen. Das Problem ist aber, dass in Österreich die Monolingualität gefördert wird.

STANDARD: Wie kam es dazu?

Steiner: Bis zu den 2000ern war die Mehrsprachigkeit mit der interkulturellen Bildung im Kindergarten gut integriert. Mehr- sowie deutschsprachige Kinder wurden gemeinsam in ihren Sprachen und Dialekten unterstützt. Mit Pisa und Sprachchecks in Kindergärten kam ein Bruch, standardisierte Tests wurden wichtig. Einmal pro Woche machten externe Expert:innen Deutschförderung mit Kindern, die es brauchten. Die Strategie wird immer noch verfolgt, obwohl sie der Sprachvielfalt nicht gerecht wird. Förderung, in der Kinder stundenweise aus der Klasse müssen und gesondert Deutsch lernen, funktioniert nur wenn der Großteil Deutsch spricht und es zwei, drei Mehrsprachige gibt. In Wien, wo wir in unseren Einrichtungen 70 bis 90 Prozent mehrsprachige Kinder haben, geht das nicht.

STANDARD: Deutschförderklassen sind also nicht der richtige Weg?

Steiner: Nein. In den isolierenden Deutschförderklassen fühlen sich die Kinder oft nicht wohl oder verlieren die Freude am Lernen. So kann ein Kind, das gut in Mathe ist, dort nicht ausreichend gefördert werden und kommt zum Beispiel erst mit zehn Jahren in die erste Klasse, obwohl es die Grundlagen schon kann. Und die Kinder erleben, anders zu sein, ausgeschlossen zu werden, weil sie nicht die richtige Sprache sprechen. Sie machen zu, manche verstummen.

STANDARD: Inwiefern?

Steiner: Bis zum Kindergarteneintritt entwickeln sich Kinder wunderbar in ihren Erstsprachen. Im Kindergarten lernen sie dann, dass sie das, was sie bisher können, nicht zeigen dürfen. Und dass mehrsprachige Pädagog:innen möglichst einsprachig kommunizieren. Nehmen sie sich in dieser für die Entwicklung zentralen Phase sprachlich zurück, kann das zu einem ko gnitiven und sprachlichen Stillstand führen. Den aufzuholen ist beinahe unmöglich. Wir lassen die Kinder also in Gruppen, wo nur Deutsch gesprochen wird, institutionell verstummen. Letztlich geht es aber darum, Teilhabe in der Gesellschaft zu erwirken. Viele Kinder streben von sich aus die Normsprache an. Studien zeigen, dass im Kindergarten viele ihre Erstsprache sprechen und in der Schule Deutsch. Das geht so weit, dass sie die Erstsprache ablehnen – was mit dem gesellschaftlichen Status der Sprachen zu tun hat.

STANDARD: Wie ginge es besser?

Steiner: Das Wichtigste ist, dass die Pädagog:innen darauf achten, dass das Kind wirklich versteht, was gesagt wird, auch wenn es noch nicht so gut Deutsch spricht. Wir haben in den Interreg-Projekten sprachensensible Methoden entwickelt, evaluiert und in Praxishandbüchern publiziert. Wir arbeiten viel mit Bildern und haben Sprachbegleiter:innen. Ebenso setzen wir Assistent:innen, die die Fremdsprachen der Kinder sprechen – am meisten Bosnisch, Serbisch, Kroatisch und Türkisch – als Bezugspersonen ein. Wichtig sind mehrsprachige Peers. Bei Gruppenübungen lassen wir die Kinder, die eine Sprache sprechen, zusammenarbeiten. So können sie sich austauschen, die Ergebnisse präsentieren sie den anderen auf Deutsch. So trauen sie sich eher, sich einzubringen, als wenn sie nur passiv Deutsch hören.

STANDARD: Was haben Ihre Pilotprojekte bewirkt?

Steiner: Es herrschen mehr Sprechfreude und Selbstvertrauen. Die Kinder erfahren sich als erfolgreiche Lernende, Angst und Stress, die das Lernen hemmen, sind viel geringer. Die Eingewöhnungsphase der mehrsprachigen Kinder ist kürzer geworden, wenn sie eine gleichsprachige Ansprechperson haben. In vulnera blen Phasen müssen wir die Kinder in ihrer Sprache abholen. Auch im Kollegium gab es Veränderungen: Wir hatten weniger Krankenstände. Besonders die Assistent:innen haben eine sinnvolle Aufgabe erhalten und Selbstwirksamkeit erfahren. Bei der Personalwahl achten wir mehr auf Sprachen.

STANDARD: Was sollte sich in der Ausbildung verändern?

Steiner: Es braucht mehr Forschung. Die Antworten der Wissenschaft müssen wirklich im Kindergarten ankommen. Uns fehlen Fachleute, die Sprachbildung lehren. Gut ist, dass es ab Herbst an den Bafeps eine unverbindliche Übung dazu gibt. Für die Ausbildung unserer Pädagog:innen bieten wir den eigens entwickelten Lehrgang "Handlungsfeld Sprache" an, der auch vom Bildungsministerium anerkannt ist. In Wien gibt es großen Bedarf, den die PHs nicht allein abdecken können. Kurze Lehrgänge oder Seminare zu Sprachbildung sind aber zu wenig. Es bedarf einer kontinuierlichen Weiterbildung. Damit das Wissen grundlegend vermittelt und umgesetzt wird, haben wir eine Fachberaterin für Mehrsprachigkeit, die regelmäßig in die Kindergärten geht.

STANDARD: Was fordern Sie dafür?

Steiner: Dass der Kindergarten als erste Bildungseinrichtung mitgedacht wird und mehr Ressourcen in Form von besseren Rahmenbedingungen und Ausbildung erhält. Von der Bildungspolitik hieß es lang: Deutsch, Deutsch, Deutsch. Das hat sich in den letzten zwei Jahren etwas verändert. Sie wissen, dass sie die Mehrsprachigkeit nicht mehr ignorieren können. Hier sollte mehr auf Bildungs- und Sprachwissenschafter:innen gehört werden und die Entscheidungen nicht so stark von Parteipolitik bestimmt werden. (Selina Thaler, 5.4.2023)