Im Klassenzimmer waren Schülerinnen und Schüler während der Pandemie nur selten. Das Homeschooling dürfte Abbrüche verstärkt haben.
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Die Corona-Pandemie war für Milli der Anfang vom Ende ihrer Schulkarriere. Milli (Name von der Red. geändert, Anm.) war in der vierten Klasse Mittelschule, als der Lockdown begonnen hat und sie per Video zu Hause am Unterricht teilnehmen musste. Die Umstellung überforderte die damals 14-Jährige: fehlende Tagesstruktur, allein daheim, Lehrende, die nicht merkten, wenn sie nicht folgen konnte. Sie schaffte die Hausübungen nicht mehr. Und ihr fehlte bald die Motivation: Statt zu lernen, schlief sie oder spielte am Handy. "Ich bin in eine Depression gefallen", sagt Milli drei Jahre später. Mit Mühe wechselte sie in die polytechnische Schule – und brachte die neunte Pflichtstufe noch hinter sich. Dann brach sie die Schule ab.

Millis Geschichte zeigt, wie sich die Pandemie mitunter auf die Schulverläufe Jugendlicher ausgewirkt hat. Fachleute vermuten, dass durch die psychische Belastung und das Homeschooling die Zahl der Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher gestiegen ist. Aktuelle Zahlen gibt es nicht – die neuesten wurden vor Corona erhoben. Klar ist: In Zeiten des Fachkräftemangels und hoher Jugendarbeitslosigkeit ist jeder Abbrecher einer zu viel.

Unterschiedliche Daten

Wie viele Jugendliche die Schule mit maximal einem Pflichtschulabschluss schmeißen, ist eine Frage der Daten. Laut Mikrozensus-Befragung von 2019 haben acht Prozent der 18- bis 24-Jährigen ihre Ausbildung abgebrochen. Konkret sind das rund 54.500 Jugendliche. Damit liegt Österreich unter dem EU-Schnitt von 9,6 Prozent.

Doch diese Quote, die das Bildungsministerium gern zitiert, sei nicht aussagekräftig, betont Mario Steiner. Er beforscht am Institut für höhere Studien (IHS) Bildungsverläufe. Verlässlicher sei die Quote, die die Statistik Austria berechne. Demnach machen die Abbrecher mit maximal einem Pflichtschulabschluss zwölf Prozent der 15- bis 24-Jährigen aus. Das sind mit rund 98.600 Abbrechern fast doppelt so viele. "Es scheint, die Politik ist sich der Zielgruppengröße nicht bewusst. Das wäre aber wichtig für Maßnahmen."

Zwar gab es Maßnahmen, um die pandemische Situation zu erleichtern. So konnten Schüler mit einem Fünfer aufsteigen. Der Anteil jener, welche die Schulstufe wiederholen mussten, ist laut Statistik Austria deutlich gesunken. Dafür ergaben sich woanders Brüche, weiß der IHS-Experte: beim Übergang von der Unter- in die Oberstufe. Fünf Prozent mehr als noch vor Corona fielen so jährlich aus dem System. Steiner führt das auf "massive Orientierungsprobleme durch die Schulschließungen" zurück. Aber nicht bei allen: "Waren sie bereits in der Oberstufe, sind sie geblieben. In unsicheren Zeiten ist das verständlich, da bleibt man da, wo man es kennt."

Psychische Belastung

Dieser Umbruch war auch für Milli schwer. Die Frage, wie es nach dem Poly weitergehen soll, quälte sie: "Ich war überfordert, etwas zu finden. Ich wusste gar nicht, wer ich bin und was mir gefällt." Nach den Sommerferien meldete sie sich arbeitslos, das AMS schickte sie in eine Schulung. Nach einem halben Jahr war der Kurs vorbei – und Milli wieder arbeitslos. Die Depression wurde schlimmer, sie kam ins Spital. Sie sei nicht die Einzige, erzählt Milli. In ihrer Klasse brachen zwei ab, eine Schülerin war in der Psychiatrie. Etliche Studien zeigen, dass seit Corona die Psyche der Jungen leidet. Da das eher Mädchen betrifft, könnte sich die Geschlechterverteilung der Abbrecher annähern. Bisher schmeißen mehr Burschen hin.

Burschen brechen häufiger ab als Mädchen. Durch die steigende psychische Belastung könnte sich das Geschlechterverhältnis der Abbrecher annähern.
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Die Gründe für einen Abbruch sind vielfältig. Selten führten nur schlechte Noten dazu, sagt Johann Bacher, Bildungssoziologe an der Uni Linz. Sondern außerschulische Faktoren: die instabile Pubertätsphase, Konflikte mit Familie und Freunden, Mobbing- oder Gewalterfahrung sowie antisoziales Verhalten, insbesondere bei Burschen.

Psychische Probleme hätten die meisten Abbrecher, sagen die Experten. Der gefühlte Dauerkrisenmodus mache jenen, die schon belastet seien, noch mehr zu schaffen, beobachtet Andrea Bachner, Millis Betreuerin bei Pro Mente. Angststörungen und soziale Isolation, aber auch Internet- und Spielsüchte hätten deshalb zugenommen. "Bei einigen entsteht Resignation, und sie fragten sich: Wozu sollen sie sich bemühen, wenn es für die Jugend immer schwieriger wird, der Klimawandel die Welt zerstört?"

Risikogruppen

Auch im Ausland Geborene oder Menschen mit Migrationsgeschichte haben ein größeres Risiko abzubrechen. Dabei seien diese laut dem Soziologen Bacher besonders motiviert, mit einem hohen Bildungsabschluss sozial aufzusteigen, und bei über 80 Prozent klappe dies. Das Scheitern liege vor allem am selektiven Schulsystem und an der Halbtagsschule. "Es wird viel Lernunterstützung in die Familien delegiert, viele können aber nicht ausreichend helfen", sagt Bacher. Manche hätten eine "Bildungsabwärtskarriere": Der Schüler beginnt zum Beispiel verzögert wegen Deutschproblemen die Mittelschule, wiederholt, wechselt die Schule, bricht ab, fängt eine Lehre an, hört wieder auf. Das führe dazu, dass Anfang 20-Jährige ohne Abschluss das System verlassen.

Wer maximal die Pflichtschule absolviert hat, tut sich am Arbeitsmarkt schwer. Diese Menschen sind meist prekär beschäftigt, werden öfter und länger arbeitslos, scheiden früher aus dem Beruf aus. Sie sind sie häufiger krank und von sozialer Ausgrenzung betroffen. Mit einer Lehre oder der Matura stehen die Chancen deutlich besser. Wegen vieler offener Stellen derzeit ist es zwar leichter, trotzdem werden vor allem Fachkräfte, nicht Hilfsarbeiter gesucht.

Teure Folgekosten

Das ist nicht nur eine Herausforderung für die Betroffenen, sondern auch für den Staat. Jeder Abbrecher kostet über das ganze Leben laut Schätzungen einer EU-Studie etwa eine Million Euro. Insofern besteht ein Interesse, Jugendliche wie Milli im System zu halten. Seit 2017 gibt es eine Ausbildungspflicht bis 18 Jahre. Die soll verhindern, dass Jugendliche nach der Pflichtstufe keine Ausbildung mehr machen (siehe Wissen).

Im Spital nahm Milli deshalb Kontakt zum Jugendcoaching auf. Das Coaching unterstützte sie bei der Suche nach einem Nachreifungsprojekt namens Ausbildungsfit, das Milli seit Juli in der Workbox in Linz, betrieben von Pro Mente Oberösterreich, besucht. Hier sollen die Jungen wieder im Alltag Fuß fassen, Interessen entdecken, einen neuen Weg einschlagen. In Arbeitstrainings lernen sie sowohl Tugenden wie Pünktlichkeit als auch Berufe kennen: tischlern in der Werkstatt, kochen in der Ausbildungsküche, Bürotätigkeiten übernehmen im Pro-Mente-Büro.

Wer vier Monate nach dem Abbruch noch keine Ausbildung hat, wird vom Jobcoaching kontaktiert. Dieses achtet darauf, dass die Ausbildungspflicht bis 18 Jahre eingehalten wird.
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"Es ist wichtig, dass man nicht nur zu Hause sitzt. Hier habe ich etwas Sinnvolles zu tun", sagt Milli. Seit kurzem macht sie ein Praktikum in einer Zahnarztpraxis. Die klaren Tagesabläufe halfen gegen die Depression: "Damals habe ich mir vorgeworfen, nicht aus dem Bett zu kommen. Ich wusste, ich muss etwas mit meinem Leben machen, habe es aber nicht geschafft." Es sei ein Erfolg, regelmäßig hierherzukommen.

Maßnahmen greifen

Soziologe Bacher hat Verständnis. "Man kann nicht erwarten, dass sie nach einem halben Jahr hundert Prozent leisten, das dauert zwei, drei Jahre, bis sie stabil sind. Es hat ja auch lange gedauert, bis sie aus rausgefallen sind." Wichtiger als die Nachsorge sei die Vorsorge: Schulen bräuchten mehr Ressourcen, um Schüler vor dem Ausstieg aufzufangen.

Steiner vom IHS bewertet das Jugendcoaching in einer Evaluierung von 2021 positiv. Die Abbrecher könnten so – im Vergleich zu jenen ohne Coaching – gut ins System integriert werden. Wie viele das schaffen, wird nicht kommuniziert. Im Vorjahr gab es 67.023 Teilnahmen an solchen Coachings, 6.482 Teilnahmen an Ausbildungsfit, da können jugendliche Teilnehmer auch doppelt zählen.

"Die meisten, die zu uns kommen, machen danach eine Lehre, ein Bruchteil geht zurück in die Schule oder studiert, etwa gleich viele machen andere Schulungen", sagt Bachner von Pro Mente. Milli will nicht mehr in die Schule, sondern eine Lehre machen: "Ich fürchte, mir fehlt in der Schule auf Dauer die Motivation. Ich will nicht noch mehr Zeit verlieren, wenn ich schon wieder abbrechen würde." (Selina Thaler, 21.4.2023)