100 Milliarden Nervenzellen und tausende Verknüpfungen machen unser Gehirn zum leistungsfähigen Unikum.
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Das Human Brain Project hat kein geringeres Ziel als die Vermessung des menschlichen Gehirns. In dem auf zehn Jahre angelegten Forschungsvorhaben werden alle bisherigen Erkenntnisse über das hochkomplexe Organ zusammengetragen und in einem computergestützten Modell abgebildet. Es handelt sich dabei um die bisher bestfinanzierte Forschungsinitiative, in die über die gesamte Laufzeit mehr als 400 Millionen Euro flossen.

Im September dieses Jahres kommt das rekordverdächtige Projekt, das die digitale Hirnforschung vorantreiben soll, zum Abschluss. Das generierte Wissen soll dann neuartige Anwendungen in der Medizin und in der Technik ermöglichen. Neben viel Zuspruch wurde auch Kritik laut: Um das mit 100 Milliarden Neuronen ausgestattete Organ darzustellen, gereiche ein Computermodell schlichtweg nicht.

Arbeit für Jahrzehnte

Abseits des Human Brain Project steht das Gehirn weltweit im Zentrum unzähliger Forschungsanstrengungen. So unterschiedliche Disziplinen wie Entwicklungsneurobiologie, Psychiatrie, Neuropsychologie, Philosophie, Soziologie und Theologie widmen sich seiner Ergründung. Fragen zu Funktionsweise, Wahrnehmung, Bewusstsein, Kognition wie auch zu Erkrankungen und ihrer Therapie werden Fachleuten zufolge die Gehirnforschung über viele Fachbereiche hinweg noch jahrzehntelang intensiv beschäftigen.

Was dieses ohnehin schon herausfordernde Unterfangen noch komplizierter macht, ist die Plastizität unseres Hirns. Je nach Nutzung und Anforderung verändert es sich, auch Umwelteinflüsse wirken auf das Gehirn ein, und nicht zuletzt zeigen sich Unterschiede in den Hirnen von Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen.

Bei Erwachsenen macht das Gehirn etwa zwei Prozent der Körpermasse aus, verbraucht aufgrund seiner Aktivität aber 20 Prozent des Grundumsatzes.
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Gesundes und krankes Gehirn

Bis heute liegen nicht nur unzählige neuronale Abläufe unseres Denkorgans im Dunkeln, auch etliche psychische Erkrankungen und Entwicklungsstörungen sind noch schlecht erforscht. Vielen dieser Störungen liegen genetische Ursachen zugrunde, wobei oft nicht klar ist, wie sich diese konkret auf die Entwicklung und die Funktionen des Gehirns auswirken. Das bedeutet auch, dass sich gewisse Pathologien zwar diagnostizieren lassen, die Abläufe dahinter aber erst von weiterer Forschung ergründet werden müssen.

Daneben arbeiten Wissenschaftsteams auch an neuen therapeutischen Ansätzen – Auftrieb gewinnt zurzeit etwa der Einsatz psychedelischer Substanzen. Als mögliche Zukunftshoffnung der Medizin werden zudem Technologien wie das Genom Editing gehandelt. Bevor diese Ideen der Fehlerkorrektur zur Anwendung kommen, wartet aber noch ein Berg an Forschungsarbeit.

Kreativ und empathisch

Seit mehr als 2000 Jahren versucht die Philosophie das Hirn zu begreifen und wird in diesem Vorhaben immer stärker von der naturwissenschaftlichen Forschung sowie neuen, präzisen und hochauflösenden Methoden der Bildgebung unterstützt. Sie ermöglichen neue Einsichten, die auch helfen sollen, menschliche Eigenschaften wie Empathiefähigkeit, Kreativität oder die Fähigkeit zu glauben zu verstehen.

Langsam, aber kontinuierlich hangelt sich die Wissenschaft einem besseren Verständnis entgegen, wobei jeder Fortschritt meist gleich wieder neue Fragen aufwirft. In Anlehnung an die weltweit entstehenden Gehirnforschungsprojekte schrieben die Neurowissenschafter Josh Huang und Liqun Luo treffend: "Es braucht die ganze Welt, um das Gehirn zu verstehen." (Marlene Erhart, 15.4.2023)